Gorleben-Chronik
1984 – Menschenkette und Tag X
Am 12. März beginnt der Erörterungstermin zur Errichtung der Wiederaufarbeitunganlage in Dragahn in Hitzacker. „Eine Welle von Mißtrauen“ schlägt Ministerialdirigent Wälzholz, Leiter der Abteilung Gewerbe, Umweltschutz und Kernenergie im niedersächsischen Ministerium für Bundesangelegenheiten entgegen. Man kommt „über Verfahrensfragen und Befangenheitsanträge kaum hinaus“. Nach drei Tagen bleiben die meisten KritikerInnen der Veranstaltung fern.
„Das Vertrauen hat sehr gelitten, die Unwägbarkeiten sind gewachsen und wir sind beunruhigter als je zuvor.“
Menschenkette & Wendlandblockade gegen WAA-Pläne
Auf einer Strecke von 26 Kilometern reichen sich am 24. März AKW-Gegner*innen und Friedensaktivist*innen die Hand: Eine Menschenkette wird von Hitzacker bis nach Clenze geschlossen. 12.000 Menschen nehmen teil und protestieren von 14 bis 14.10 Uhr gegen die WAA-Pläne und Atommülllager im Wendland.
Am 30. April findet die erste „Wendlandblockade“ statt: Für 12 Stunden werden alle wichtigen Zufahrtsstraßen nach Gorleben blockiert. Generalprobe für den ersten Atommülltransport. Trotz Demonstrationsverbot beteiligen sich über 3.000 Menschen und verstellen die Straßen mit Autos, Traktoren oder Bäumen.
Polizeipräsenz rund um die Uhr: Im Vorfeld des ersten Atommültransports beginnt die Polizei mit einer „Rundum-Observation“. Am hellichten Tag werden die Kennzeichen ordentlich geparkter Autos etwa in Platenlaase notiert. Nachts dringen Streifenwagen der Polizei auf Bauernhöfe vor und inspizieren abgestellte Fahrzeuge auf privatem Grund. Im Mai erteilt der Generalstaatsanwalt am Landgericht Celle auf Grundlage des Paragraphen 129 (Gründung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung) einer Sonderkommission umfangreiche Ermittlungsbefugnisse: Abhören von Telefongesprächen, Durchsuchungen und Obervationen.
Laut Verfassungsschutzbericht 1983/84 sollen 1984 die Hälfte aller Anschläge auf Atomanlagen in Deutschland im Landkreis Lüchow-Dannenberg stattgefunden haben. Der dabei entstandene Sachschaden belief sich auf 3,8 Millionen DM. Im Wendland seien zudem Gleisanlagen beschädigt worden, was einen Schaden von 500.000 DM verursacht habe.
TAG X
Mit 80 Kilometern pro Stunde durch geschlossene Ortschaften, im Zickzack-Kurs durch das Wendland und über Feldwege erreicht der erste Atommülltransport am 8. Oktober das Zwischenlager Gorleben. Absender von 506 schwachaktiven Atommüllfässer war das Atomkraftwerk Stade, wo ein „akuter Entsorgungsbedarf“ bestand.
- 8. Oktober 1984: Um 8.42 Uhr am Morgen verlassen vier Tieflader mit 210 Zweihundertliter-Fässern das AKW Stade. Ein Großaufgebot von Polizei und Bundesgrenzschutz sichert den Transport, der über Uelzen ins Wendland rollt. 50 Mannschaftswagen mit etwa 2.000 Beamten sichern die Straßen, Hubschrauber begleiten den Konvoi aus der Luft. Zwischen Gedelitz und Gorleben werden entlang der Straße über mehrere Kilometer NATO-Draht ausgelegt. Am frühen Abend können AKW-Gegner den Transport zeitweise aufhalten – allerdings erst wenige Hundert Meter vor dem Zwischenlager.
- Am Abend verbreitet sich das Gerücht, dass am Folgetag erneut ein Transport von Stade nach Gorleben stattfinden soll. Zahlreiche Straßenblockaden mit quergestellten Fahrzeugen, Baumstämmen und brennenden Strohballen werden vorbereitet. Am 9. Oktober 1984 um 9.45 Uhr starten in Stade Sattelschlepper mit weiteren 296 Fässern, die auf zehn Container verteilt sind. Rund 40 Mannschaftswagen der Polizei sichern den Transport, der an diesem Tag deutlich mehr Hindernisse überwinden muss. Dennoch erreicht der Konvoi am Abend das Zwischenlager in Gorleben.
Unter der Lieferung befinden sich falsch deklarierte Fässer aus dem Transnuklear-Skandal. In die als schwachradioaktiv deklarierten Atommüllfässer war illegal hochradioaktives Plutonium beigemischt worden.
Während damals noch die Mehrheit unserer Lokalpolitiker das Zwischen(?)-lager als Segen für die Region pries – es hat ja Millionen in die lokalen Kassen gespült! – wurden viele nachdenkliche,wache Bürger nicht müde zu warnen: In Leserbriefen, Appellen, Anzeigen auf fast jeder Seite unserer Lokalzeitung, in Menschenketten, Prozessen und schließlich der Wendlandblockade zeigte sich der Unmut, aber auch die Hilflosigkeit gegen „die oben“.
Marianne Fritzen, Vorsitzende der BI, 2014 in der Gorleben-Rundschau
Am 10. Oktober lehnt das Verwaltungsgericht Lüneburg den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Betriebsgenehmigung des Zwischenlagers ab. Es gäbe keine „neuen Erkenntnisse“, die eine Aufschiebung rechtfertigen würden.
Am selben Tag zeigt der Betreiber des Zwischenlagers, die Brennelemente-Lager-Gesellschaft (BLG) dem Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg (GAA) Korrosionsschäden am Fußboden der Halle an. Durch die Dauerbelastung mit schweren Lasten sei es zum „Aufbruch der Materialfehler im Estrich“ gekommen. Kritiker*innen sprechen von „4 bis 5 mm großen Poren“ und „handtellergroßen Löchern“ im Fussboden. Dieser erfülle damit nicht die Voraussetzung für die Einlagerung von Atommüll, weil er dafür „leicht dekontaminierbar“ sein muss.
Obwohl die Schäden keine Bedeutung für die Sicherheit hätten, verfügt das Amt einen Einlagerungsstopp, die angelieferten Container dürfen aber entladen werden. Der Direktor der GAA, Schwerter-Strumpf:
„Wären die Schäden vor dem 8. Oktober bekannt gewesen, wäre das Zwischenlager natürlich nicht in Betrieb genommen worden.“
31. Oktober: Rücktransport eines Fasses wegen zu hoher Strahlung zum AKW Stade. Die Überschreitung der Grenzwerte war erst drei Wochen nach Einlagerung entdeckt worden.
Die ganze Geschichte:
…und davor – Die Anfänge bis 1972
Die Anfänge: Erste Überlegungen, Atommüll in Salz zu lagern – statt ihn in der Tiefsee zu versenken. Gasexplosion im Salzstock Gorleben-Rambow.

1973 – Zwei AKW für das Wendland
1973 werden die Pläne bekannt, bei Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk zu bauen. In der Debatte um einen Standort für ein Atommüll-Endlager bzw. die Errichtung eines Entsorgungszentrums spielt Gorleben 1973 offiziell keine Rolle.
1974 – Erste Standortsuche ohne Gorleben
Die Standortsuche für ein Atommülllager beginnt. Das Credo: So lange die Anlage genug Platz hatte und niemanden störte, war alles gut.

1975 – Großer Waldbrand bei Trebel
Im August 1975 bricht bei Trebel ein großer Waldbrand aus. Die Bundesregierung geht bei der Standortsuche für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) davon aus, dass mehrere Salzstöcke parallel untersucht werden müssten. Gorleben gehört nicht dazu.

1976 – Der Standort „Gorleben“ taucht auf
(…) In einer zweiten Version der TÜV-Studie wurde handschriftlich der Standort Gorleben ergänzt und als am besten geeignet befunden. (…)

1977 – Das Jahr der Standortbenennung
Nach der Benennung Gorlebens als Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ finden erste Großdemonstrationen statt.

1978 – Ein Koffer voll Geld
Innerhalb von 5 Tagen sammeln Gorleben-Gegner*innen 800.000 DM, um der DWK beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen.

1979 – Treck nach Hannover – WAA „nicht durchsetzbar“
Im März 1979 findet der legendäre „Treck nach Hannover“ statt. Nach einer Großdemonstration in der Landeshauptstadt verkündet der Ministerpräsident das Aus für die WAA-Pläne in Gorleben.

1980 – „Republik Freies Wendland“
Platzbesetzung der Bohrstelle Gorleben 1004 und Gründung der „Republik Freies Wendland“. Die Räumung nach vier Wochen wird zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD.

1981 – Die Zweifel in Gorleben werden größer, nicht kleiner
Gorleben-Hearing in Lüchow zum Bau des Zwischenlagers und massiver Protest gegen das AKW Brokdorf. Nach Bohrungen werden die Zweifel an der Eignung des Salzstock Gorleben für ein Endlager „größer, nicht kleiner“. Doch Gegner*innen des Projekts seien „Schreihälse, die bald der Geschichte angehören“, meinen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl.

1982 – „Tanz auf dem Vulkan“
Der Zwischenlagerbau beginnt, Tanz auf dem Vulkan und plötzlich ist das Wendland mit Dragahn wieder als ein WAA-Standort im Gespräch.

1983 – Dragahn: Eine WAA wird verhindert
Proteste gegen die Pläne, in Dragahn eine WAA zu errichten. „Gorleben statt Kreta“ und Demos im Grenzgebiet zwischen der DDR und BRD. Das Bundeskabinett unter Helmut Kohl stimmt der „untertägigen Erkundung“ des Salzstocks Gorleben zu.

1984 – Menschenkette und Tag X
„Das Vertrauen hat sehr gelitten“: Menschenkette und Wendland-Blockade gegen die WAA-Pläne. Unter erheblichem Protest erreicht ein erster Atommülltransport das Fasslager Gorleben.
1985 – „Spudok“-Affäre und Kreuzweg
Der erste Kreuzweg führt vom AKW Krümmel nach Gorleben. Nach Anschlägen auf die Bahn werden die Daten von tausenden Gorleben-Gegner*innen von der Polizei gespeichert – und damit eine ganze Szene pauschal kriminalisiert.
1986 – Tschernobyl
Heftige Auseinandersetzungen um den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf. Nach dem GAU von Tschernobyl protestieren zehntausende Menschen gegen die Atomenergie.
1987 – 10 Jahre Gorleben
„Transnuklearskandal“ betrifft auch Atommüll im Zwischenlager Gorleben. Schwerer Unfall in Schacht 1.
1988 – „Wir stellen uns quer!“
Kreuzweg der Schöpfung führt von Wackersdorf nach Gorleben, Schmiergeldskandal, „Wir stellen uns quer“ – Proteste gegen den ersten Probecastor ins Zwischenlager.
1989 – Castor-Alarm im Wendland
Das Aus für die WAA Wackersdorf, Castor-Alarm: erster Atommülltransport nach Gorleben wird wenige Stunden vor Abfahrt gerichtlich gestoppt.
1990 – PKA-Bauplatz- und Turmbesetzung
„Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann…“, als auf dem Bauplatz der PKA Hütten errichtet werden. Aktivist*innen besetzen im Sommer den Förderturm in Gorleben, zum Jahresende Baustopp und SPD-Versprechen.
1991 – Mol-Skandal & Baustopp
Anlieferung von Mol-Container, PKA-Bauplatzbesetzung, erneuter „Castor-Alarm“ und nächster Baustopp im Erkundungsbergwerk.
1992 – Viel Geld für den Landkreis
Resolution gegen und eine Mehrzweckhalle für Gorleben, Erweiterung des Zwischenlagers und viel Geld für den Landkreis.
1993 – CASTOR-HALLE-LUJA und Endlagerhearing
Sitzblockaden gegen Atommüll-Lieferungen, „Wege aus der Gorleben-Salzstock-Sackgasse“, Energiekonsens-Gespräche und hohes Bussgeld gegen Turmbesetzer*innen.
1994 – Pleiten, Pech und Pannen: „Castornix“
Widerstandscamp „Castornix“ und erhebliche Proteste gegen ersten Castortransport, der wegen technischer Mängel dann abgesagt wird. Weiterbau der PKA per Weisung.

1995 – Tag X, Backpulver & Stay rude-stay rebel
Anschläge auf Bahn & Kran, die Aktion „ausrangiert“ will den ersten Castor empfangen, Bundesumweltministerin Merkel macht den absurden Backpulver-Vergleich & der Baustopp im Bergwerk wird aufgehoben.
1996 – „Wir stellen uns quer!“
10 Jahre nach Tschernobyl, „Wir stellen uns quer!“ gegen den zweiten Castor nach Gorleben.

1997 – Stunkparade gegen Sixpack
Gewaltsame Räumung für den dritten Castor, Griefahn knickt ein & mehr Geld von der BLG.
1998 – Castor-Skandal und TagX4 in Ahaus
Einwendungen gegen die PKA, Castortransport nach Ahaus, Transportestopp nach verstrahlten Behältern, Einstieg in den Atomausstieg und Moratorium im Salzstock.
1999 – „Gerhard, wir kommen“ & X-tausendmal quer
„Flickschusterei“ um Atomausstieg & AkEnd, Stunkparade nach Berlin und die Ankündigung, dass sich beim nächsten Castor X-tausend Menschen querstellen werden.

2000 – Atomkonsens & Moratorium
Defekte Brücke und unsichere Behälter verhindern Castorlieferung, Atomkonsens „alles Lüge“, denn er sichert den Weiterbetrieb der AKW und Moratorium im Salzstock.

2001 – X-tausendmal quer & Widersetzen
Zwei Atommülltransporte rollen nach Gorleben, einer im März, ein zweiter im November. X-tausend Menschen stellen sich quer und WiderSetzen sich. Der Betonblock von Süschendorf zwingt den Castor zum Rückwärtsgang. Der Widerstand bekommt ein Archiv, die Bundestagsabgeordneten ein Denkmal, die „Gewissensruhe“.