GORLEBEN-CHRONIK

Das Jahr 1986

Baubeginn im Bergwerk, Wackersdorf & Tschernobyl

Baubeginn im Bergwerk Gorleben. Heftige Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und das AKW Brokdorf. Nach dem GAU von Tschernobyl protestieren zehntausende Menschen gegen die Atomenergie.

Januar

07.01.1986

In Wackersdorf wird das zweite Hüttendorf geräumt und dem Erdboden gleichgemacht. Die Polizei nimmt 763 auswärtige Personen fest, 2.000 einheimische Besetzer*innen werden nach Nennung ihres Wohnortes freigelassen.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Februar

04.02.1986

Am 4. Februar entscheidet sich die Atomindustrie definitiv für Wackersdorf als Standort für eine Wiederaufarbeitungsanlage.

16.02.1986

Nach der Entscheidung für Wackersdorf als Standort für eine WAA demonstrieren dort am 16. Februar bei eisigen Temperaturen rund 35.000 Menschen auf dem Schwandorfer Marktplatz.

16.02.1986

Am 16. Februar protestieren 500 Lüchow-Dannenberger*innen bei klirrender Kälte gegen die Rodung von 17 Hektar Wald für die Errichtung einer Abraum- und Salzhalde, die im Zusammenhang mit dem Endlagerausbau in Gorleben aufgeschüttet werden soll. Vierzig Aktivist*innen besetzen vorübergehend das bedrohte Gelände und errichten Hütten.

März

02.03.1986

Tod am Bauzaun: Bei einem brutalen Polizeieinsatz in Wackersdorf stirbt am 2. März die 61jährige Erna Sielka an Herzversagen.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Offizieller Baubeginn des "Erkundungsbergwerks"

17.03.1986

Am 17. März beginnen die Abteufarbeiten von Schacht Gorleben I im Tiefkälte-Gefrierverfahren. Damit beginnt offiziell der Bau des "Erkundungsbergwerks" bzw. die unterirdischen Erkundungsarbeiten, eine "Tauglichkeitsprüfung". Bundesforschungsminister Riesenhuber und Niedersachsens Umweltminister Werner Remmers statten Gorleben bei der Gelegenheit einen Besuch ab. Geplant ist, dass das Endlager "Ende dieses Jahrhunderts" in Betrieb gehen soll. Derzeit steckt die Bundesregierung sämtliche Mittel zur Endlagerforschung ins Wendland–Salz. Anfang der 90er Jahre soll ein endgültiges Urteil gefällt werden, dann gibt es zu Gorleben keine Alternative mehr.
"Der Salzstock muß also sicher sein, egal was bei den Untersuchungen herauskommt", so die Kritik der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow–Dannenberg.

Großdemo gegen WAA in Wackersdorf

31.03.1986

Ostern 1986 (30./31. März) demonstrieren in Wackersdorf 100.000 Menschen gegen die WAA, es handelt sich um die größte Umweltdemonstration in der BRD bis zu diesem Zeitpunkt. Am Bauzaun kommt es zu Kämpfen zwischen BGS, Polizei und Bürger*innen. In Wackersdorf wird das Wasser abgestellt, damit die Wasserwerfer der Polizei betankt werden können. Erstmalig wird CS- und CN-Gas gegen Demonstrant*innen eingesetzt. Hunderten Menschen müssen die Augen ausgespült werden, es gibt Verletzte und einen Toten: Ein 38jähriger Demonstrant stirbt nach einem Asthmaanfall. Die Polizei bestreitet den Zusammenhang von Gaseinsatz und dem Tod des Mannes. Die Umstände werden auch im Wendland diskutiert.

April

Tschernobyl

26.04.1986

In den ersten Tagen nach Bekanntwerden der Katastrophe reagiert die gelähmte Anti-Atom-Bewegung gar nicht.

Atomindustrie will PKA bauen

30.04.1986

Am 30. April beantragt die Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) die Errichtung einer Konditionierungsanlage (PKA) in Gorleben. Die Anlage soll auf 3,5 Hektar und für rund 200 Millionen Mark gebaut werden. Geplant ist dort die Zerlegung von Brennelementen und die anschließende Verpackung in endlagerfähige Behälter.
Gorleben erhielte damit die atomare Qualität, die dem Dorf an der Elbe bereits früher als "Nationales Entsorgungszentrum" zugedacht war. Einziger Unterschied zu damals: statt Wiederaufarbeitung nun Konditionierung, "nichts Chemisches" also, wie die DWK beruhigt. (Spiegel vom 02.06.1986)

Doch eine Konditionierung abgebrannter Brennelemente ist "weltweit noch nicht demonstriert und praktiziert", damit wird die PKA zu einem Experimentierplatz, auf dem "alle Arbeitsschritte zunächst erprobt" werden müssen, "um die Konditionierungstechnik bis zur Anwendungsreife zu entwickeln".
Quelle: u.a. Spiegel, 02.06.1986

Mai

01.05.1986

Die radioaktive Wolke aus Tschernobyl erreicht die Bundesrepublik. "Unsere AKW sind sicher", sagen die Minister Zimmermann und Riesenhuber im Fernsehen. Die Bequerelwerte in der Luft, im Boden, in der Milch und in den Lebensmitteln steigen von Tag zu Tag. Der Schrecken wird mess- und damit fassbar. Viele Menschen ziehen ihre Schuhe vor der Wohnungstür aus, kaufen H-Milch und Äpfel aus Südafrika, schnuppern nicht mehr am Flieder. Für einige Wochen wird alles anders, gerät alles ins Rutschen. Tag für Tag gehen tausende auf die Straße. In Wackersdorf treibt die Polizei Demonstranten mit Wasserwerfern und Hubschraubern auseinander. Bayrisches Giftgas und Radioaktivität aus der Sowjetunion - Horrorszenen aus dem Atomstaat. Keiner will mehr Atomkraftwerke, die Atomlobby steht mit dem Rücken an der Wand.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

"Endlagerspektakel"

08.05.1986

Himmelfahrt (8./9. Mai) findet ein "Endlagerspektakel" in Gorleben und Salzgitter / Wolfenbüttel statt. Gelähmt vom GAU in Tschernobyl nehmen im Wendland 5.000 Menschen an der Aktion teil und fordern "die Stillegung aller Atomanlagen in Ost und West". Am ersten Werktag nach Himmelfahrt werden die Zufahrtsstraßen zu den Atomanlagen blockiert.

09.05.1986

Am Zaun der Atomanlage in Gorleben kommt es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Grenzschützer*innen und Protestlern.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

13.05.1986

40.000 Menschen fordern in Hamburg die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

18.05.1986

50.000 Menschen beteiligen sich in Wackersdorf an einer Pfingstaktion (18./19. Mai). Die Polizei schießt vom Hubschrauber aus Gasgranaten in die Menge. Mehr als 600 Protestierende werden durch Gas, Knüppelschläge oder Hundebisse teilweise schwer verletzt. In der Region herrscht Ausnahmezustand: Massive Polizeikontrollen, Hausdurchsuchungen und Festnahmen sollen die Bevölkerung einschüchtern.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

22.05.1986

In Lüneburg bilden am 22. Mai 2.000 Menschen eine Kette um das Rathaus, wo der Stadtrat über Atommülltransporte debattiert.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Juni

06.06.1986

Zwischen dem 6. und 8. Juni findet der erste Pfingstmarkt in Kukate statt, einer der Ursprünge der WunderPunkte und der Kulturellen Landpartie.

06.06.1986

"Revolutionäre Pyrotechniker" fackeln etliche Maschinen von in Wackersdorf engagierten Baufirmen ab. Der Sachschaden geht in die Millionen. Seit der Reaktor-Katastrophe in Tschernonbyl haben Unbekannte im gesamten Bundesgebiet Dutzende Anschläge auf Zulieferfirmen und Infrastruktur der Atomindustrie verübt. In Schleswig-Holstein sind mehrere Strommasten angesägt worden.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

07.06.1986

Am 7. Juni machen sich 100.000 Atomkraftgegner*innen auf den Weg zu einer Demo gegen das AKW Brokdorf, dessen Inbetriebnahme bevorsteht. Die Polizei lässt eine richtige Demonstration nicht zu und treibt am Bauzaun Kundgebungsteilnehmer*innen mit Tränengas und Knüppeln auseinander. Ca. 10.000 Hamburger Demonstrant*innen werden auf dem Weg zur Demo im schleswig-holsteinischen Kleve aufgehalten. Bei 95 Fahrzeugen zerschlägt die Polizei Scheiben, zersticht Reifen. Einige PKW brennen aus.
Quelle: u.a. Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

07.06.1986

Am 7. Juni demonstrieren trotz Verbot 30.000 Menschen in Wackersdorf. Die extrem brutalen Polizeieinsätze hinterlassen sechzig schwer- und mehr als 300 leichtverletzte AKW-Gegner*innen. Rund siebzig Menschen werden festgenommen.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

08.06.1986

"Hamburger Kessel": Auf dem Heiligengeistfeld sammelt sich am 8. Juni eine Demonstration aus Protest gegen den Polizeieinsatz vom Vortag. Die mehr als 800 Personen werden bis zu 13 Stunden lang innerhalb einer Polizei-Absperrkette festgehalten. Wegen dieser Maßnahme muss zwei Monate später Innensenator Rolf Lange zurücktreten.

12.06.1986

In Hamburg protestieren 50.000 Menschen gegen den Atomstaat.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Juli

12.07.1986

Die staatliche Hetze gegen "Chaoten" und "Terroristen" ist auf dem Höhepunkt, als die taz einen "Offenen Brief an die Anti-Bewegung" veröffentlicht. Tenor: Die Bewegung kann nur mit absoluter Gewaltfreiheit Erfolg haben, Gewalttäter sollen bei "künftigen Demonstrationen (...) keine Chance mehr haben, unseren Zielen so massiv zu schaden, wie sie das in den letzten Wochen leider getan haben." Das Dokument ist von Realo-Grünen, Sozialdemokraten und einer Reihe prominenter Theologen und Kulturschaffender unterzeichnet, die mit der Mehrheit der Anti-Atom-Bewegung gar nichts zu tun haben. Zahlreiche Gruppen aus der Bewegung reagieren mit scharfer öffentlicher Kritik auf den "Spaltungsversuch".
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

15.07.1986

Am 15. Juli besetzen Bio-Bauern das Kreishaus in Lüchow aus Protest gegen die Einstellung der unentgeltlichen staatlichen Meßprogramme, die nach dem Tschernobyl-GAU begonnen wurden. Die höchsten Radioaktivitäts-Werte im norddeutschen Raum finden sich im östlichen Zipfel des Wendlands. Besonders die Bio-Bauern machen mobil, ihre Existenz ist bedroht - und werden von der Polizei aus dem Kreishaus geschleift. Da sich radioaktives Jod-131 besonders auf Grünpflanzen niederschlägt, wollen viele Bauern ihre Kühe nicht mehr auf den Weiden grasen lassen.

26.07.1986

Über 100.000 Menschen nehmen am 26. und 27. Juli in Burglengenfeld am fünften "Anti-WAAhnsinns-Festival" teil, das sich gegen die WAA Wackersdorf richtet. Es handelt sich um das bis dahin größte Rockkonzert der deutschen Geschichte. Auf der Bühne stehen BAP, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg, Rodgau Monotones, Purple Schulz, Rio Reiser, Herbert Grönemeyer und viele mehr.

27.07.1986

Laut eines Berichts der Nachrichtenagentur ap sind seit Jahresbeginn 178 Brand- und 27 Sprengstoffanschläge verübt worden. Mindestens 72 der gemeldeten Aktionen sollen laut Innen-Staatssekretär Spranger "im Sachzusammenhang mit der Kampangne gegen den Bau bzw. Betrieb kerntechnischer Anlagen" stehen.
Quelle: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag

August

06.08.1986

Sitzblockade vor dem AKW Brokdorf. Die Aktion wird künftig einmal im Monat stattfinden.
Quelle: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag

26.08.1986

Die SPD beschließt auf dem Nürnberger Parteitag einen Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb von zehn Jahren.
Quelle: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag

28.08.1986

Sprengstoffanschlag auf einen Strommasten im Sachsenwald bei Hamburg. Die Leitung vom AKW Krümmel muss stillgelegt, das Kraftwerk im Betrieb heruntergefahren werden.
Quelle: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag

September

07.09.1986

Ein Polizeihubschrauber nimmt am WAA-Gelände in Wackersdorf die Verfolgung von angeblichen Brandstifter:innen auf. Auf der Bahnstrecke übersieht der Pilot einen herannahenden Zug. Helikopter und Zug kollidieren und gehen in Flammen auf. Der Lokführer kann sich durch einen Sprung retten, fünf Polizist:innen werden mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht, einer von ihnen stirbt.
Quelle: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag

"Fest des ersten Kübels"

18.09.1986

Der Betreiber der Bergwerks feiert am 18. September das "Fest des ersten Kübels", der Beginn der Abteufarbeiten in Schacht 1. Unweit des Geländes gibt es "lautstarken Protest".

Oktober

Bei den Kreistagswahlen im Oktober sichert sich die CDU (52,3%) ihre absolute Mehrheit. Dahinter: SPD (25,2%), UWG (11,9%) und Grüne (6,5%).

08.10.1986

Am 8. Oktober wird das Atomkraftwerk Brokdorf als als weltweit erste Anlage nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl in Betrieb genommen.

November

Mitte November

Mitte November erhebt die Staatsanwaltschaft Lüneburg Anklage gegen drei AKW-Gegner*innen aus dem Wendland, u.a. wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Sie sollen Anschläge auf die Bahnstrecke für Atommülltransporte verübt haben.

27.11.1986

Zum ersten Mal wird eine Bundeskonferenz der Anti-Atom-Bewegung verboten. Sie sollte am darauf folgenden Wochenende in Regensburg stattfinden. 1.200 Polizist*innen setzen das Verbot durch.

Dezember

14.12.1986

Nach dem offiziellen Baubeginn der WAA Wackersdorf errichten am 14. Dezember etwa 1.000 Atomkraftgegner*innen das erste Hüttendorf "Freie Oberpfalz". Zwei Tage später räumen 3.700 Polizisten die Protestaktion. Mit der Rodung des Taxölderner Forst wird begonnen.

21.12.1986

Am 21. Dezember steht das nächste Protest-Hüttendorf, die "Freie Republik Wackerland", auf dem Baugelände der WAA Wackersdorf: 158 Hütten, Zelte und Baumhäuser.

Die ganze Geschichte: