Gorleben-Chronik
2015 - Kulturelles Widerstandsfest
Tausende feiern im Sommer an den Atomanlagen, Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht: der "Kessel von Harlingen" war rechtswidrig.
Mehr als 100 Menschen kommen am 1. Januar zum Neujahrsempfang der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg an den Atomanlagen in Gorleben.
"Wir blicken natürlich auf das, was in Berlin in der Endlagerkommission debattiert wird, vor allem auf die Arbeitsgruppe 'Sicherheitskriterien' für die Endlagerung. Denn dort wird eine Vorentscheidung fallen, ob der marode Salzstock Gorleben als mögliches Atommüllendlager fortgeschleppt oder fallen gelassen wird", so Wolfgang Ehmke, Sprecher der BI, mit Blick auf das "Widerstandjahr 2015".
Mehr als 60 Menschen finden sich bei Regen und Sturm zur 200. Mahnwache für Fukushima am 9. Januar auf dem Marktplatz in Dannenberg ein. Spendiert wird eine große Torte.

Am 14. März findet aus Anlass des Fukushima-Jahrestages in Dannenberg eine Demonstration statt. 300 Menschen versammeln sich am Ostbahnhof und ziehen in Begleitung von 30 Traktoren zum Marktplatz.
Am 25. März beschließt das Bundeskabinett, die sogenannte Veränderungssperre in Gorleben bis ins Jahr 2025 zu verlängern. Die bisherige Veränderungssperre läuft am 16. August aus.
"Statt einer weißen Landkarte bei der angeblich neuen Endlagersuche wird der Salzstock als Regierungsfavorit für ein nukleares Endlager gehandelt", heißt es seitens der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. (BI). „Barbara Hendricks Beteuerungen, kein Standort sei bei der Endlagersuche gesetzt und auch keiner von vornherein ausgenommen, wird durch diese Entscheidung konterkariert". "Mit dem Beschluss des Bundeskabinetts soll gegenüber den Bundesländern signalisiert werden, dass der Kelch an ihnen vorbeigehen wird".
Mitte April beschließt der SPD-Unterbezirksparteitag in Uelzen 5.000.000 Euro für Gorleben, solange dort Atommüll eingelagert wird. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI) lehnt diese Forderung strikt ab.
Mitte April weist das Verwaltungsgericht Lüneburg die Klage von Bernstorff und Greenpeace gegen die Veränderungssperre Gorleben zurück. Per Eilverfahren wollten die Umweltorganisation und der Grundeigentümer Fried Graf von Bernstorff klären lassen, ob die geplante Fortschreibung der Veränderungssperre in Gorleben für unwirksam erklärt werden kann. Das Gericht wies die Anträge als unzulässig und unbegründet ab.
Im April legt das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) auf Drängen der BI eine Vereinbarung zwischen dem Bund und dem Land Niedersachsen vor, die belegt, dass sich das Planfeststellungsverfahren in Gorleben aus dem Jahr 1977 für erledigt erklärt wurde.
Kulturelles Widerstandsfest
Im Rahmen der Kulturellen Landpartie feiern am 22. Mai 8.000 Menschen ein "kulturelles Widerstandsfest" rund um das Erkundungsbergwerk. Zwischen dem Areal des atomaren Zwischenlagers und der Endlagerfestung drängen sich Tausende zwischen Info- und Verkaufsständen, auf drei Bühnen spielen Bands zur Unterstützung des Gorleben-Widerstands oder laden zu Theatervorstellungen ein. Rund 50 Traktoren der Bäuerlichen Notgemeinschaft fahren auf und umrunden als Shuttle-Service das Bergwerksgelände mit unzähligen Informationshungrigen auf dem Anhänger.
"Niemand glaubt, dass in der Endlagerkommission des Deutschen Bundestages die Weichen auf ein Ende des Gorleben-Kapitels gestellt werden", sagte BI-Sprecher Wolfgang Ehmke auf einer der Kundgebungen: "Das treibt die Menschen auf die Straße."
Am Nachmittag überwinden einige hundert Besucher*innen den äußeren Begrenzungszaun des Endlagerbergwerks und fordern auf Transparenten den Rückbau der Anlage. Die Besetzungsaktion dauert bis in die frühen Morgenstunden an. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius spricht von einer "Gewaltorgie", "puren Polizeihass" und "blinde Zerstörungswut".
Der Bundesrat verlängert am 12. Juni die Veränderungssperre für den Salzstock in Gorleben – anders als ursprünglich geplant allerdings nicht um weitere zehn, sondern nur zwei Jahre bis zum 15.08.2017. Bis dahin soll nach einer Lösung gesucht werden, die es möglich macht, im Sinne der geforderten Gleichbehandlung von Gorleben auch für andere potenzielle Standort-Regionen in Deutschland solche Veränderungssperren zu verfügen. Bisher ist aber offen, wie eine solche Lösung rechtlich aussehen könnte.
Das Bundesverfassungsgericht gibt in einer Entscheidung vom 25. Juni einem Demonstranten in einem Verfahren zum Castortransport 2010 recht: Die Ingewahrsamnahme im "Harlinger Kessel" war nicht rechtmäßig.
Am 6. August, dem Jahrestages des Abwurfes der Hiroshimabombe, beteiligen sich 25 Menschen an der Fukushima-Mahnwache in Dannenberg.
Am 1. September wird die Klage gegen die Veränderungssperren-Verordnung durch Graf von Bernstorff und Greenpeace vom Verwaltungsgericht Lüneburg auch in der Hauptsache für unzulässig erklärt. Die Kläger behalten sich vor, gegen diese Entscheidung Widerspruch einzulegen und in die nächste Instanz zu gehen.
Am 24. September lehnt der Kreistag Lüchow-Dannenberg die Einladung der Endlager-Kommission zu Workshops ab.
Die ganze Geschichte:
…und davor – Die Anfänge bis 1972
Die Anfänge: Erste Überlegungen, Atommüll in Salz zu lagern – statt ihn in der Tiefsee zu versenken. Gasexplosion im Salzstock Gorleben-Rambow.

1973
1973 werden die Pläne bekannt, bei Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk zu bauen. In der Debatte um einen Standort für ein Atommüll-Endlager bzw. die Errichtung eines Entsorgungszentrums spielt Gorleben 1973 offiziell keine Rolle.

1974
Die Standortsuche für ein Atommülllager beginnt. Das Credo: So lange die Anlage genug Platz hatte und niemanden störte, war alles gut. Der Standort Gorleben hatte damit nichts zu tun.

1975
Im August 1975 bricht bei Trebel ein großer Waldbrand aus. Die Bundesregierung geht bei der Standortsuche für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) davon aus, dass mehrere Salzstöcke parallel untersucht werden müssten. Gorleben gehört nicht dazu.

1976
(…) In einer zweiten Version der TÜV-Studie wurde handschriftlich der Standort Gorleben ergänzt und als am besten geeignet befunden. (…)

1977
Die Bedenken sind stark, doch Gorleben wird trotzdem zum Standort für den Bau eines gigantischen „Nuklearen Entsorgungszentrums“ benannt. Daraufhin finden erste Großdemonstrationen statt.

1978
Innerhalb von 5 Tagen sammeln Gorleben-Gegner*innen 800.000 DM, um der DWK beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen.

1979
Im März 1979 findet der legendäre „Treck nach Hannover“ statt. Nach einer Großdemonstration in der Landeshauptstadt verkündet Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht das Aus für die WAA-Pläne in Gorleben.

1980
Platzbesetzung der Bohrstelle Gorleben 1004 und Gründung der „Republik Freies Wendland“. Die Räumung nach vier Wochen wird zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD.

1981
Gorleben-Hearing in Lüchow zum Bau des Zwischenlagers und massiver Protest gegen das AKW Brokdorf. Nach Bohrungen werden die Zweifel an der Eignung des Salzstock Gorleben für ein Endlager „größer, nicht kleiner“. Doch Gegner*innen des Projekts seien „Schreihälse, die bald der Geschichte angehören“, meinen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl.

1982
Baubeginn des Zwischenlagers wird mit Aktionen im Grenzstreifen zur DDR beantwortet, militante Eskalation beim „Tanz auf dem Vulkan“ und immer schlechtere Bohrergebnisse. Plötzlich ist das Wendland mit Dragahn wieder als ein WAA-Standort im Gespräch.

1983
Proteste gegen die Pläne, in Dragahn eine WAA zu errichten. „Gorleben statt Kreta“ und Demos im Grenzgebiet zwischen der DDR und BRD. Das Bundeskabinett unter Helmut Kohl stimmt der „untertägigen Erkundung“ des Salzstocks Gorleben zu.

1984
„Das Vertrauen hat sehr gelitten“: Menschenkette und Wendland-Blockade gegen die WAA-Pläne. Unter erheblichem Protest erreicht ein erster Atommülltransport das Fasslager Gorleben.

1985
Ein erster leerer Probe-Castor erreicht das Wendland. Der erste Kreuzweg führt vom AKW Krümmel nach Gorleben. Nach Anschlägen auf die Bahn werden die Daten von tausenden Gorleben-Gegner*innen von der Polizei gespeichert – und damit eine ganze Szene pauschal kriminalisiert.

1986
Baubeginn im Bergwerk Gorleben. Heftige Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und das AKW Brokdorf. Nach dem GAU von Tschernobyl protestieren zehntausende Menschen gegen die Atomenergie.

1987
Schwerer Unfall in Schacht 1 des Bergwerks in Gorleben. „Transnuklearskandal“ betrifft auch Atommüll im Zwischenlager, Proteste gegen den Bau der PKA.

1988
Kreuzweg der Schöpfung führt von Wackersdorf nach Gorleben, Schmiergeldskandal, „Wir stellen uns quer“ – Proteste gegen den ersten Probecastor ins Zwischenlager.
1989
Das Aus für die WAA Wackersdorf, Castor-Alarm: erster Atommülltransport nach Gorleben wird wenige Stunden vor Abfahrt gerichtlich gestoppt.

1990
„Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann…“, als auf dem Bauplatz der PKA Hütten errichtet werden. Aktivist*innen besetzen im Sommer den Förderturm in Gorleben, zum Jahresende Baustopp und SPD-Versprechen.

1991
Proteste gegen die Anlieferung von Mol-Container, PKA-Bauplatzbesetzung, erneuter „Castor-Alarm“ und nächster Baustopp im Erkundungsbergwerk.
1992
Resolution gegen und eine Mehrzweckhalle für Gorleben, Erweiterung des Zwischenlagers und viel Geld für den Landkreis.
1993
Sitzblockaden gegen Atommüll-Lieferungen, „Wege aus der Gorleben-Salzstock-Sackgasse“, Energiekonsens-Gespräche und hohes Bussgeld gegen Turmbesetzer*innen.
1994
Widerstandscamp „Castornix“ und erhebliche Proteste gegen ersten Castortransport, der wegen technischer Mängel dann abgesagt wird. Weiterbau der PKA per Weisung.

1995
Anschläge auf Bahn & Kran, die Aktion „ausrangiert“ will den ersten Castor empfangen, Bundesumweltministerin Merkel macht den absurden Backpulver-Vergleich & der Baustopp im Bergwerk wird aufgehoben.

1998
Einwendungen gegen die PKA, Castortransport nach Ahaus, Transportestopp nach verstrahlten Behältern, Einstieg in den Atomausstieg und Moratorium im Salzstock.

1999
„Flickschusterei“ um Atomausstieg & AkEnd, Stunkparade nach Berlin und die Ankündigung, dass sich beim nächsten Castor X-tausend Menschen querstellen werden.

2000
Defekte Brücke und unsichere Behälter verhindern Castorlieferung, Atomkonsens „alles Lüge“, denn er sichert den Weiterbetrieb der AKW und Moratorium im Salzstock.

2001
Zwei Atommülltransporte rollen nach Gorleben, einer im März, ein zweiter im November. X-tausend Menschen stellen sich quer und WiderSetzen sich. Der Betonblock von Süschendorf zwingt den Castor zum Rückwärtsgang. Der Widerstand bekommt ein Archiv, die Bundestagsabgeordneten ein Denkmal, die „Gewissensruhe“.

2002
25 Jahre nach der Standortbenennung künftig keine Wasserwerfer mehr gegen den Widerstand, Freispruch im Süschendorf-Prozess, Ver-rück-te Dörfer gegen zwölf Castorbehälter, Rechenfehler und ein Abschlussbericht des AKEnd.

2003
Betonklötze für Betonköpfe, „Fest zum Protest“, der Salzstock wird besetzt, der siebte Castor rollt. Atomausstieg: das AKW Stade geht vom Netz – aber die Endlagersuche bleibt weiter unklar.

2004
Schienensitzen ist keine Straftat, das Einkesseln rechtswidrig, Trash People in Gedelitz, eine Veränderungssperre für den Salzstock zemetiert dessen Sonderstellung. Der Castortransport im Herbst verändert alles: Sebastién wird überfahren und stirbt.

2005
25 Jahre nach der „Republik Freies Wendland“ und 10 Jahre nach dem ersten Castortransport ist die Entsorgung des Atommülls weiter ungelöst. In die Debatte um die Entsorgung des Atommülls und die Zukunft der Atomenergie kommt Bewegung, die Veränderungssperre für den Salzstock wird verlängert. Container brennen, Bauern ziehen sich aus – und im November rollt der nächste Atommüllzug ins Zwischenlager.

2006
Geologe Grimmel warnt vor Erdbeben, die CDU kann sich in Gorleben ein Untertagelabor vorstellen. „Wir sind gekommen um zu bleiben“: Castorproteste im Herbst mit einer eigenen „Allgemeinverfügung gegen Atomwirtschaft und Polizeiwillkür“ und ein Offenbarungseid von Umweltminister Sigmar Gabriel.

2007
Der Widerstand feiert 30 Jahre Protest, ein Probecastor im Sommer aber keine „heiße Fracht“ im Herbst, stattdessen Kinderkrebsstudie und G8-Gipfel in Heiligendamm.

2008
Endlager-Symposium & Probebohrungen in Hamburg, absaufende Asse-2, 1 Millionen Jahre Endlager-Sicherheit und ein nächster Castortransport im November.

2009
Brisante Enthüllungen: Gorleben wurde aus politischen Motiven zum Endlagerstandort. Seit Jahren wird nicht nur „erkundet“, sondern ein Endlager gebaurt. „Mal so richtig abschalten“ – ein Protest-Treck aus dem Wendland führt zu einer großen Demo gegen AKW-Laufzeitverlängerung nach Berlin. Kein Castortransport, seit Oktober finden jeden Sonntag Spaziergänge um das Bergwerk statt.

2010
Krümmel-Treck, Ketten-Reaktion, Atomkraft-Schluss!, Castor XXL: die Antwort auf die AKW-Laufzeitverlängerung sind die größten Anti-Atom-Demonstrationen, die es in Deutschland je gab.

2011
Bundesweite Anti-Atom-Proteste nach dem Fukushima-GAU, neuer Atomausstieg, gorleben365 und ein „Rekord-Castor“ – der letzte, der nach Gorleben rollte.
2012
Das „Wendejahr“ mit zahlreichen Werksblockaden unter dem Motto „gorleben365“ und der zentralen Forderung zur Endlagersuche auf der „weißen Landkarte“: Der Fleck Gorleben muss weg!
2013
Mit der „Beluga“ stellt Greenpeace in Gorleben ein Mahnmal auf, der Widerstand läuft Matrathon gegen das neue Standortauswahl-Gesetz.
2014
Die „neue Endlagersuche auf der weißen Landkarte“ beginnt – mit einem dicken Fleck: Gorleben. Immer wieder Proteste gegen die „Atommüllkommission“ der Regierung und tausende Unterschriften gegen weitere Castoren.
2015
Tausende feiern im Sommer an den Atomanlagen, Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht: der „Kessel von Harlingen“ war rechtswidrig.
2016
Für 23 Milliarden Euro entledigen sich die Atomkonzerne dem Atommüll, der ab sofort uns allen „gehört“. Zahlreiche Aktionen an den Atomanlagen gegen die Endlagerpläne der Bundesregierung.
2017
Auch 40 Jahre nach der Standortbenennung ist der Widerstand „lebendig“, Betreiber der Atomanlagen wird der Bund, Castoren auf dem Neckar und letzte Befahrung des Gorleben-Schachts.
2018
Neuer Betreiber will Aus für die PKA, Langzeitlagerung von Castoren rückt in den Fokus, Kritik an der Arbeit des „Nationalen Begleitgremiums“.
2019
30 Jahre Kulturelle Landpartie, 40 Jahre nach dem Treck nach Hannover. Abriss der Schutzmauer um das Bergwerk.

2020
Im „Corona-Jahr“ wird Gorleben Ende September völlig unerwartet aus der weiteren Suche nach einem Atommülllager ausgeschlossen. Nach über 40 Jahren Protestgeschichte ist es vorbei. Im Herbst rollt der erste Castor durch Deutschland, der eigentlich nach Gorleben sollte.
2021
10 Jahre nach Fukushima hat die Corona-Pandemie Deutschland fest im Griff, nur wenige öffentliche Aktionen finden statt. Viel Kritik an Online-Veranstaltungen zur Endlagersuche. Im Sommer der vierte Kreuzweg von Gorleben nach Lützerath. Im Herbst das Versprechen: der Salzstock wird verfüllt.