Gorleben-Chronik

Gorleben-Chronik - 1990

PKA-Bauplatz- und Turmbesetzung

"Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann...", als auf dem Bauplatz der PKA Hütten errichtet werden. Aktivist*innen besetzen im Sommer den Förderturm in Gorleben, zum Jahresende Baustopp und SPD-Versprechen.

Januar

12.01.1990

Am 12. Januar beantragen Bürger*innen aus der DDR, das Bürgerbeteiligungsverfahren für die geplante Pilot-Konditionierungsanlage (PKA) Gorleben nach § 4 Atomverfahrensordnung wieder aufzunehmen. Anwohner*innen aus der DDR tauchen als Betroffene der Anlage wegen der bis 1989 existierenden Staatsgrenze im Sicherheitsbericht der PKA gar nicht auf. Das Niedersächsische Umweltministerium (NMU) lehnt diesen Antrag wenig später ab.

17.01.1990

Auf einer Tagung im Kernforschungszentrum Karlsruhe wird am 17. Januar bekannt, dass die Überwachung von Spaltmaterial in der PKA nicht im vermuteten Umfang gewährleistet werden kann. Angegeben wird eine Messgenauigkeit von 12 Prozent. Ministerialrat Fricke vom NMU fragt nach Einflüssen auf das laufende Genehmigungsverfahren.

31.01.1990

Am 31. Januar erteilt das Niedersächsischen Umweltministerium die erste atomrechtliche Teilgenehmigung (1. TG) für die Pilot-Konditionierungsanlage Gorleben und ordnet den Sofortvollzug an. Die 1. TG beinhaltete im Wesentlichen den Rohbau des Konditionierungsgebäudes. Der Landkreis Lüchow-Dannenberg erteilt daraufhin die Baugenehmigung für die Anlage. Die ursprüngliche Planung geht von der Inbetriebnahme im Jahr 1999 aus.

Februar

Protest-Hütten im PKA-Wald

01.02.1990

Am 1. Februar besetzen am frühen Morgen mehrere 100 Gorleben-GegnerInnen den Wald, auf dem die PKA gebaut werden soll und beginnen Hütten zu bauen.
"Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann...".

02.02.1990

Am 2. Februar erheben fünf BRD- und vier DDR-BürgerInnen vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg Klage gegen die erste Teilgenehmigung der Pilot-Konditionierungsanlage Gorleben. Über diese Klage ist in der Sache zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht entschieden. Gleichzeitig wurde die Aufhebung des Sofortvollzuges gefordert, was einem Baustopp entsprochen hätte.

03.02.1990

Am 3. Februar findet gegen die geplante PKA eine erste gemeinsame Demonstration von Atomkraftgegner*innen aus Ost- und Westdeutschland statt. Ca. 5.000 Menschen kommen nach Gorleben und laufen zum Bauplatz der PKA. Im Vorfeld dieser Demonstration hat es einen Informationsaustausch zwischen BRD- und DDR-Sicherheitsbehörden gegeben.

06.02.1990

Am 6. Februar wird das "Hüttendorf" im PKA-Wald von einer Übermacht von 2.000 Polizisten geräumt.

07.02.1990

Am 7. Februar beginnen die Bauarbeiten für die PKA, das Gelände wird planiert und ein Metallgitterzaun errichtet.

09.02.1990

Am 9. Februar übergeben Mitglieder des "Neuen Forums" (DDR) dem NMU 1.423 Einwendungen gegen den Bau der PKA von DDR-BürgerInnen aus Gemeinden, die an den Landkreis Lüchow-Dannenberg angrenzen.

19.02.1990

Am 19. Februar kommt es erneut zu Protesten: ca. 200 Menschen blockieren ab 5.30 Uhr die Zufahrten zum Zwischenlager und der PKA-Baustelle. Am Nachmittag räumt die Polizei die Blockierer "sehr gewalttätig" von der Straße.

März

10.03.1990

An einem Waldspaziergang um die PKA-Baustelle beteiligen sich am 10. März 250 Projekt-GegnerInnen. Es kommt zu Beschädigungen am Bauzaun.

27.03.1990

Am 27. März lehnt das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg lehnt den Antrag auf Baustopp für die PKA bis zur Hauptsacheentscheidung ab.

28.03.1990

Aus Protest gegen das OVG-Urteil ketten sich am 28. März 15 Menschen an die Tore des Zwischenlagers.

April

Anfang April

Im April legt das Bundesamt für Strahlenschutz eine Bewertung der übertägigen Erkundungsergebnisse für das Atommüll-Endlager auf Grund einer "erweiterten Datenbasis" vor. Darin werden die Ergebnisse von 1983 und damit die "Eignungshöffigkeit" Gorlebens bestätigt.

17.04.1990

Am 17. April organisiert die Bürgerinitiative eine "Frühstücksblockade" gegen die PKA, die von der Polizei geräumt wird.

Mai

06.05.1990

Mit Hilfe von Leitern und Treppen klettern 50 AktivistInnen am 6. Mai über die Sicherungsanlagen um die PKA-Baustelle. Vier Stunden besetzen sie das Gelände.

07.05.1990

Ab dem 7. Mai, ein Montag, finden ab sofort jeden Montag Blockaden vor den Gorlebener Atomanlagen statt. Das Motto wechselt von Woche zu Woche.

13.05.1990

13. Mai: Landtagswahlen in Niedersachsen: Auch wenn im Wahlbereich Lüchow-Dannenberg der CDU-Kandidat Kurt-Dieter Grill gewinnt, regiert erstmals eine Koalition aus SPD und Bündnis 90 / Die Grünen den Landtag in Hannover. In den rot/grünen Wahlversprechen befindet sich auch das Aus für die Gorleben-Anlagen. Beim Widerstand gegen Gorleben ziehen die Bundes-SPD und die roten Länderchefs mit: Die Atomindustrie solle nach einem "geeigneteren Müllplatz" suchen.

22.05.1990

In einem Brief an das Umweltministerium schreibt das Bundesamt für Strahlenschutz am 22. Mai: "Im Rahmen des Erwerbs der Nutzungsrechte an den Salzabbauberechtigungen am Salzstock Gorleben sind bisher die Verhandlungen mit fünf Eigentümern gescheitert. [...] Eine Enteignung ist somit unumgänglich." Neben Andreas Graf von Bernstorff wären davon die ev.-luth. Kapellengemeinden Meetschow, Gorleben, Gartow und Trebel betroffen.

Juni

12.06.1990

Die designierte Umweltministerin Monika Griefahn (parteilos) und Hannes Kempmann (Die Grünen) erklären auf einer Veranstaltung in Gorleben am 12. Juni die niedersächsische Vorstellung vom Atomausstieg. Die Gorleben-Gegner*innen bleiben skeptisch. "Die Wende kommt nur aus dem Wendland!", so BI-Sprecher Wolfgang Ehmke.

19.06.1990

In den Koalitionsvereinbarungen einigen sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen am 19. Juni darauf, "alle rechtlichen Möglichkeiten aus(zu)schöpfen, die erste Teilerrichtungsgenehmigung (der PKA) zurückzunehmen oder zu widerrufen und weitere Genehmigungen nicht zu erteilen".

Turmbesetzung

21.06.1990

Am 21. und 22. Juni besetzen 14 Aktivist*innen beide Endlagerschächte des Bergwerks Gorleben. Anlass ist der Antritt der ersten rot/grünen Regierung in der Geschichte Niedersachsens. Die Forderung der Besetzer*innen: Ministerpräsident Gerhard Schröder soll sein Versprechen zum dauerhaften Gorlebenstop einlösen. Durch die Aktion werden die Bergbauarbeiten (kurzfristig) eingestellt. Im Nachgang verklagt die Bundesregierung die AktivistInnen auf 126.000 DM Schadensersatz.
Es ist 8 Uhr morgens, als die Aktivist/-innen den Maschendrahtzaun und die dahinter liegende vier Meter hohe Betonmauer mit selbstgebauten Holzleitern überwinden und die beiden Fördertürme des so genannten Erkundungsbergwerks erklimmen. Gründe, die Türme zu besetzen, gibt es reichlich. Mit den Slogans „Koalitionspapiere sind geduldig, wir sind es nicht“ und „Letzte Schicht – Schacht dicht” und „Gorleben stop! – alle AKWs ab-schalten!“ fordern die Besetzer/-innen die unverzügliche Umsetzung der zwischen SPD und Grünen vereinbarten Pläne zum Ausstieg aus der Atomenergie. Ein „Aus“ für Gorleben, so kalkulieren die Atomkraftgegner/-innen, würde Folgen haben, denn alle AKWs, die Gorleben als Entsorgungsnachweis benutzen, müssten vom Netz genommen werden. Die ganze Endlagergraberei ist aus Sicht der Atomkraftgegner/-innen ohnehin eine Alibiveranstaltung... weiterlesen: Artikel in der Gorleben Rundschau 09/11-2020

23.06.1990

Am 23. Juni beginnen ca. 70 Gorleben-Gegner*innen unter dem Motto "Irgendwann fällt jede Mauer" mit Hammer und Meißel den Abbruch der Mauern um das Endlagerbergwerk. Als die Polizei nach einer halben Stunde kommt, ist bereits alles vorbei.

August

06.08.1990

Am 6. August hebt das staatliche Gewerbeaufsichtsamt die Beschlagnahmung der 1.222 in Gorleben lagernden Atommüllfässer auf. Damit ist ein Abtransport für eine Neukonditionierung möglich. Alle 1.222 Fässer werden in 34 Auslagerungschargen von 1992 bis 1998 hauptsächlich in das Forschungszentrum Jülich gebracht, um dort den Inhalt zu bestimmen.

08.08.1990

Am 8. August erwähnt der damalige Leiter der Brennelementlager Gorleben GmbH (BLG), Reinhard König in einem Gespräch, daß alle laufenden Projekte der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen mbH (DWK) mit Wirkung vom 01.01.90 von der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) übernommen worden sind.

29.08.1990

Am 29. August stellt die Sonderkommission der Polizei, bestehend aus 40 Kriminalbeamten, ihre Arbeit im Landkreis Lüchow-Dannenberg ergebnislos ein: Nach monatelangen Beobachtungen, Verhören und Überprüfungen von über 2.000 Personen kann der Verdacht der "Bildung einer kriminellen Vereinigung" nicht erhärtet werden.

September

Anfang September

September: Der Bericht "Die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben" der Gruppe Ökologie Hannover nennt drei Szenarien, für am wahrscheinlichsten einzutreffende Störfälle während des Betriebes der Pilot-Konditionierunsanlage:
- Brand bituminierter Abfälle, daraus resultierend im Wesentlichen die Freisetzung von radioaktiven Gasen wie Tritium, Krypton oder Jod, für die keine Filtersysteme zur Verfügung stehen.
- Selbsterhitzung von bestrahlten Kernbrennstoffen, hier im Wesentlichen hochaktive Abfälle, auch dabei folgt eine Freisetzung von großen Mengen Radioaktivität in die Umgebung
- Absturz eines Brennelements, z.B. bei der Be- oder Entladung eines Behälters, dabei Beschädigung er Hüllrohre und Freisetzung des radioaktiven Inventars.

03.09.1990

Mit einer 3-tägigen Abschlußblockade vom 3. bis zum 5. September enden die seit Mai stattfindenden Montagsblockaden. Zwei Mal räumt die Polizei die Zufahrten. Zeitweise werden die Gorleben-Gegner*innen für einige Stunden von 600 Schafen unterstützt.

06.09.1990

Am 6. September sind 27 der über 1.200 vom "Transnuklearskandal" betroffenen Atommüllfässer im Zwischenlager Gorleben geprüft und für einen Abtransport bereit.

28.09.1990

Nach juristischem Streit lässt der Landkreis Lüchow-Dannenberg die auf dem Boden des Grafen von Bernstorff errichtete Schutzhütte am 28. September abreissen. Die Hütte war im Rahmen eines Widerstandswochenendes im Oktober 1989 errichtet worden.

Oktober

Baustopp in Schacht II

05.10.1990

Am 5. Oktober müssen die Arbeiten in Schacht Gorleben II eingestellt werden. Fünf Anlieger*innen hatten mit Erfolg Widerspruch gegen die drei Sonderbetriebspläne eingelegt und so mussten alle darauf beruhenden Arbeiten gestoppt werden. Das Bundesamt für Strahlenschutz stellt noch am gleichen Tag einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht auf Erteilung des Sofortvollzuges.

15.10.1990

Am 15. Oktober blockieren Gorleben-Gegner*innen das Bergwerk "um dem Baustopp nachzuhelfen", da dort ohne Rechtsgrundlage weitergearbeitet werde.

17.10.1990

Gleich nach der Regierungsbildung besuchen Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) und die parteilose Umweltministerin Monika Griefahn Mitte Oktober das Wendland und verkünden "ihre Ausstiegspläne für Gorleben".

Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 17.10.1990:
Die Landesregierung informiert: Ausstieg aus dem geplanten atomaren Endlager in Gorleben
"Zum Endlagerprojekt Gorleben rief Schröder die ursprünglich dafür aufgestellte Sicherheitsphilosophie des Mehrbarrierenkonzepts und deren Entwicklung in Erinnerung. Als sich das Deckgebirge als nicht selbständig funktionierende Barriere und das geologische Sicherheitskonzept als nicht haltbar erwiesen habe, sei nicht etwa die Erkundung eingestellt, sondern die Philosophie geändert worden." (...)
"Zur Aufforderung aus der Versammlung bei der Auswahl alternative Standorte Gorleben nicht fallen zu lassen, sondern die Eignung weiter zu erkunden, bekundete der Ministerpräsident: Dies sei der Versuch, "hinzukriegen, daß alles so bleibt, wie es ist!""

November

11.11.1990

Am 11. November demonstrieren ca. 800 Menschen gemeinsam mit 300 Ärzt*innen des IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) in Gorleben gegen die Atomanlagen und für den Atomausstieg.

Dezember

06.12.1990

Am 6. Dezember blockieren als Nikoläuse verkleidete Aktivist*innen die Zufahrten zu den Atomanlagen in Gorleben.

Die ganze Geschichte: