GORLEBEN-CHRONIK

Das Jahr 1980

"Republik Freies Wendland"

Platzbesetzung der Bohrstelle Gorleben 1004 und Gründung der "Republik Freies Wendland". Die Räumung nach vier Wochen wird zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD.

Januar

04.01.1980

Die seit September 79 vorbereitete erste Tiefbohrungen "Gorleben 1003" beginnt.

25.01.1980

Am 25. Januar wird mit der Errichtung des 2. Tiefbohrplatzes "Gorleben 1002" begonnen. In den folgenden Tagen kämpfen Hunderte AKW-Gegner:innen buchstäblich um jede Kiefer. Nach einer Woche ist das Gelände abgeholzt. Mit dem Stück Wald, so der "Widerstand des Wendlands" in einer Zeitungsanzeige, werde "ein weiteres Stück deutscher Demokratie (...) abgeholzt". Aus Protest versprühten Bauern 40.000 Liter stinkende Gülle auf dem Bohrgelände. An "vier Tage des Fastens" riefen WendländerInnen dazu auf, "nachzudenken über das, was uns Angst macht". Frauen riefen zum "Gebärstreik" auf: "Keine Zukunft ohne Kinder, keine Kinder ohne Zukunft."
Quelle: u.a. Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Februar

06.02.1980

Am 6. Februar bestätigt das Bundesverfassungsgericht das Atomprogramm der Regierung: Eine Verfassungsbeschwerde von Atomkraftgegner:innen wird abgewiesen und damit die "friedliche Nutzung der Atomkraft" als "verfassungsgemäß" eingestuft.

April

Im April stellt die Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) einen Bauantrag für das Transportbehälterlager Gorleben beim Landkreis Lüchow-Dannenberg.

Im April setzen "ein paar zornige AKW-Gegner" vier Lastwagen einer in Gorleben beteiligten Bohrfirma in Brand.

05.04.1980

Anfang April, zu Ostern, organisieren die "Gorleben-Frauen" ein internationales Frauentreffen, zu dem mehr als 3.000 Frauen kommen. Unter anderem findet ein Nachtspaziergang zum Bohrplatz statt, wo später das Atommüll-Zwischenlager gebaut wird. Auf wendland-net.de erinnert sich Widerstand-Veteranin Lilo Wollny 2010 an die Aktion:

"Der Weg zwischen dem Spielplatz, auf dem unser Treffen stattfand und der Bohrstellewar ein schmaler Trampelpfad durch den verbrannten Wald entstanden – ich schätze die Entfernung betrug etwa 3 km. Es war stockfinster und man konnte höchstens zu zweit nebeneinander gehen. Wir warteten , bis die meisten Frauen sich auf den Weg gemacht hatten und setzten uns dann auch in Bewegung. Ab und zu leuchtete eine Fackel auf (etwa jede 50. Frau hatte eine Fackel), wenn die Trägerin über einen Hügel ging. Auf diese Weise erkannte man, dass die Reihe riesig lang war. (...) Doch als wir dann an der Bohrstelle ankamen und der Kreis aus Frauen sich um die wenigen "Bewacher" geschlossen hatte, war alle Angst verflogen, die Stimmung großartig. Die Bemühung, die eingebauten Wasserwerfer in Betrieb zu nehmen, geriet zu einem ziemlich kläglichen Versuch und würde mit Gelächter und Spott aufgenommen. Es war fast 3 Uhr nachts, als wir endlich zuhause ankamen."


Am Ostersonntag gibt es am Nachmittag eine Demo mit Männern und Kindern. Rebecca Harms, damals 23 Jahre alt, später Europaabgeordnete der Grünen, verliest dabei die "vorläufige Inbesitznahme" des Geländes um die geplante Tiefbohrstelle 1004, der "Keimzelle der Republik freies Wendland". Der Text dieser "Verordnung" entspricht dem Schreiben, mit dem die Besitzer von Grundstücken, auf denen Bohrungen vorgenommen werden sollen, vorübergehend enteignet werden.
Quelle: u.a. wendland-net.de

Mai

"Republik Freies Wendland"

03.05.1980

FotosFilm
5.000 Menschen, in großer Mehrheit von auswärts angereist, besetzen die Bohrstelle 1004 im Gorlebener Wald und proklamieren die "Republik Freies Wendland".

"Durch die bergmännische Erschließung besteht die Gefahr, dass der Salzstock Gorleben als Endlager für radioaktive Abfälle genutzt wird, obwohl er dafür nach international geltenden Kriterien nicht geeignet ist. Da andere Salzstöcke nicht untersucht werden, besteht der begründete Verdacht, dass der gläubigen Bevölkerung mit den Tiefbohrungen nur eine Prüfung des Salzstockes vorgespielt wird. Dies bestätigen auch die nicht eingehaltenen Versprechungen von Politikern, deren Kriterienkatalog bis heute nicht existiert."
Auszug aus der Bekanntmachung – vorzeitige Besitzeinweisung – Mai 1980


Auf dem trostlosen, weil zuvor abgebrannten Waldstück werden in den darauf folgenden Tagen Dutzende Häuser gebaut: Aus Holz und Lehm entsteht ein phantasievolles Dorf mit allen notwendigen kommunalen Einrichtungen. Willkommen in Utopia: öffentliche Küche, Sauna, ein Freundschaftshaus, Badehütten, Klos, Gewächshäuser, Gärten, Schweineställe, eine Ponyreitanlage für Touristen, ein mit Windenergie betriebener Tiefbrunnen, eine Solar-Warmwasseranlage, ein Klinikum, eine Einreisebehörde mit Passamt – nicht zu vergessen der Wendländische Frisiersalon.

"Das Freundschaftshaus war von Zimmerleuten im Vorfeld vorbereitet worden. Es war sozusagen ein fertiger Bausatz, der nach Erreichen des Bohrplatzes nur noch aufgestellt werden musste. Es war das einzige Haus, das vorgeplant war. Ich glaube, es hatte sein Vorbild in der Platzbesetzung in Wyhl, es sollte zum Versammlungsort und zum Mittelpunkt des entstehenden Hüttendorfes werden", berichtet Widerstands-Veteranin Lilo Wollny 2010 dem wendland-net.


Eine perfekte Infrastruktur der in nur wenigen Tagen aus dem Sand gewachsenen neuen Republik, die natürlich auch über ihre eigenen Medien verfügt: vom Turm des besetzten Platzes sendet der republikeigene Sender "Radio Freies Wendland" auf UKW 101 MHz sein eigenes Programm. Schlagbäume grenzen die "Republik Freies Wendland" vom Nachbarland BRD ab, am Passhäuschen mit Schlagbaum werden "Ausweisdokumente" ausgestellt. Das Besetzerdorf macht Schlagzeilen. Niemand vermag sich dem Charme und der Faszination dieses selbstbewussten, fröhlichen Zusammenlebens im Dorf entziehen. Nach anfänglichem Zögern schauen Bauern aus dem Wendland mit ihren Frauen vorbei und bringen Brot, Kuchen, eine Schweinehälfte, Kartoffeln und Gemüse für die Langhaarigen. Die Platzbesetzer:innen bauen unentwegt weiter an den Hütten aus Brandholz, es gibt Straßen und Blumengärten. Ein Hauch von "Woodstock-Gefühl" schwebt über dem besetzten Platz. Es regnete nie in den 33 Tagen der Republik Freies Wendland.

Während sich die meisten im Dorf auf die Gestaltung eines alternativen Lebens konzentrieren, gibt es im täglich mehrere Stunden tagenden Sprecher:innenrat heftige Kontroversen zwischen BI Umweltschutz und Atomkraftgegner:innen aus den Städten über Perspektiven der Aktion und konkret das Verhalten bei der polizeilichen Räumung. Unter Berufung auf einen "Konsens" setzen die Einheimischen ihr Konzept des passiven, gewaltfreien Widerstands durch - und blocken gleichzeitig den Vorschlag für eine Großdemonstration in Gorleben unmittelbar nach der Räumung ab.

An den Wochenenden werden die 500 bis 700 ständigen Platzbesetzer:innen von jeweils 2.000 bis 4.000 Besucher:innen förmlich überrannt. Gerhard Schröder, damals JUSO-Chef, spricht sich am Ort des Geschehens gegen eine Räumung aus.

Die Politiker in Hannover versuchen, die Besetzer:innen vor allem mit Strafandrohungen zu kriminalisieren und unter Druck zu setzen. Eine Delegation wird erst im zweiten Anlauf von Bundesumweltminister Baum zu einem Gespräch empfangen. Außer der Zusage, ein Hearing über die Endlagerung zu veranstalten, kommt nichts dabei heraus.

2.000 Menschen von überall her machen sich auf nach Gorleben, um das Dorf zu schützen, als sie von der bevorstehenden Räumung hören.
Quelle: u.a. D. Kaufmann: Meine erste Platzbesetzung (2020)

Hörstück: Von Träumen und dem Paradies - das Hüttendorf 1004 (Dirk Drazewski & Gorleben Archiv e.V., 2020)

Juni

03.06.1980

Im Morgengrauen des 3. Juni errichten Polizeieinheiten Straßensperren auf allen Zufahrtswegen zum Hüttendorf.

"Turm und Dorf könnt Ihr zerstören, aber nicht unsere Kraft, die es schuf!"

04.06.1980

Am 4. Juni wird das Hüttendorf durch die Staatsgewalt mit schwerem Gerät niedergewalzt. Im Morgengrauen, gegen 6 Uhr, umzingeln Tausende Polizisten und Bundesgrenzschutzbeamte die Tiefbohrstelle 1004 mit Bulldozern und Panzern. Die Angehörigen des Panzertrupps haben schwarz angemalte Gesichter. Hubschrauber kreisen am Himmel. Mit etwa 7.000 Mann ist dies der bislang größte Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte. Per Lautsprecher werden die Besatzer um 7 Uhr aufgefordert, den Platz zu verlassen.

Die Staatsmacht zieht ein regelrechtes Bürgerkriegsmanöver mit ständig stratenden und landenden und im Tiefflug über die Hütten donnernden Hubschraubern und der Einzäung des Dorfes auf.


"Innenminister Gerhard Baum und Bundeskanzler Helmut Schmidt ließen sich in Bonn alle dreißig Minuten vom Lagezentrum der Polizei darüber berichten, wie ihre rund 10 000 Helme starke Truppen bei der Räumung und Planierung vorankamen", schrieb damals die "taz", in einer Sonderausgabe Gorleben.


Auf dem Dorfplatz der "Republik" haben sich 2.000 Bewohner:innen versammelt. Sie singen friedliche Lieder mit Titeln wie "Die Lebenslust ist unser Widerstand". Ein Akkordeonspieler spielt dazu auf dem Schifferklavier. "Bei allem, was jetzt passieren wird, denkt daran: Wir sind die Glücklichen! Wir haben hier gebaut und gepflanzt. Die Unglücklichen sind die, die jetzt in weißen Helmen, die jetzt mit Knüppeln gegen uns losgehen sollen"...

Der Sender des Hüttendorfs ließ die Lüchow-Dannenberger Bevölkerung an ihren Radios zu "Ohrenzeugen" des Geschehens werden:
"Die Leute, die abgeräumt werden, machen gar nichts und werden trotzdem zusammengetreten. Einer kann sich schon kaum noch rühren. Es ist ein Wunder, dass sich der Rest noch an die Abmachung hält und nicht zurückschlägt, keinen Widerstand leistet."


Trotz Angst und Wut über die gewalttätigen Übergriffe der Polizei, hielten sich die Platzbesetzer an ihr Konzept, die Republik Freies Wendland gewaltfrei gegen die staatliche Übermacht zu „verteidigen“.

Am Tag der Räumung wurde bundesweit verbreitet, auf dem Turm des Hüttendorfes seien Waffen versteckt. Gefunden wurde nichts dergleichen. Gerade wegen der demonstrativen Friedfertigkeit setzten sich in vielen Köpfen, nicht nur denen der Beteiligten, diese fünf Wochen fest als der "Traum von einer Sache". (Karl-Friedrich Kassel)


Mehrfach wiederholt die Polizei ihre Aufforderung, doch die Demonstranten rühren sich nicht. Um 11 Uhr beginnen Trupps von Polizisten und Grenzschutzbeamten, die Menschen vom Dorfplatz hinter die Absperrungen zu tragen. Obwohl die Sitzenden keinerlei Widerstand leisten, kommt es zum Einsatz von Schlagstöcken. Die unter den Türmen ausharrenden Besetzer:innen leisten stärkeren Widerstand, der allerdings auch hier bald gebrochen ist. Als letztes werden die Leute im großen Turm von Beamten überwältig, die sich zuvor aus Hubschraubern abgeseilt haben. Gegen 20 Uhr ist die Räumungsaktion beendet. Der leere Dorfplatz ist mit Stacheldraht umzäunt. Die „Freie Republik Wendland“ existiert nicht mehr.

33 Tage dauert dieser Traum von einer autonomen, selbstverwalteten Gesellschaft, der für viele der mehr als 1.000 Dorfbewohner nicht nur ein Kampf gegen Atomenergie und Atomstaat war, sondern auch die gelebte Utopie einer anderen Gemeinschaftsform. Der Staat antwortet mit Bulldozern, Raupen und „Apocalypse Now“-tauglich geschminkten BGS-und Polizeiaufgeboten und führte den bis dahin größten Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik durch. Die Armada braucht nur wenige Stunden, um alles dem Erdboden gleich zu machen.

„Turm und Tor könnt Ihr zerstören, aber nicht unsere Kraft, die es schuf“, steht auf einem der letzten Hütten, bevor sie ein Bulldozer platt walzt.

Bei der Räumung der Republik Freies Wendland am 4. Juni hatten wir damals in Frankfurt am Main die Paulskirche besetzt. Die Polizei brauchte etwas Zeit, bis sie an uns rankam. Die Eingänge waren mit Eisenketten innen verriegelt. (D. Kaufmann)
Quelle: Auszüge aus: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag / ndr.de, Beitrag anlässlich des 40. Jahrestages am 3. Mai 1980

Juli

Ein Hamburger Geologieprofessor wird nach dem Bonner Gorleben-Hearing im Sommer in einem Intercity-Zug unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs, bei dem Vertreter der Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), des niedersächsischen Sozialministeriums und der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) über Wege diskutierten, wie unter Umgehung von Rechtsvorschriften ein Probeschacht im Gorlebener Salzstock bereits so breit angelegt werden könnte, dass er später als Zugang zu einem Endlager dienen könne. Dr. Werner Heintz, Abteilungsleiter der PTB, gibt später seine Teilnahme an diesem Gespräch zu.

Mehr als dreißig Kirchenbesetzungen und rund achtzig Demonstrationen, die im Juni im gesamten Bundesgebiet stattfinden, dokumentieren anschaulich, was auf dem Spruchband in der Republik Freies Wendland stand: "Unser Dorf könnt ihr zerstören, nicht aber die Kraft, die es schuf." Doch die Proteste verpuffen rasch - auch weil sie nicht in einer gemeinsamen Demonstration am Bohrplatz zusammengeführt werden.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

16.07.1980

Am 16. Juli gründet die Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) die Betreibertochter des Zwischenlagers Gorleben, die Brennelemenlager Gorleben GmbH (BLG).

17.07.1980

Am 17. Juli stellt die Brennelemenlager Gorleben GmbH (BLG) beim Landkreis Lüchow-Dannenberg einen Bauantrag für das atomare Abfalllager für schwach- und mittelaktiven Müll.

September

Bei Durchsuchungen von BI-Büros und Buchläden beschlagnahmt die Polizei Hunderte von "Asterix-und-das-Atomkraftwerk"-Heften. Mehrere dutzend Leute im gesamten Bundesgebiet werden wegen Verstößen gegen das Urheberrechtsgesetz und das Warenzeichengesetz angezeigt.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Oktober

Im Oktober werden die ersten Tiefbohrungen Gorleben 1002 und 1003 im Rahmen des Standorterkundungsprogramms beendet.

Im Herbst verdichten sich in der Öffentlichkeit die Gerüchte, daß in Gorleben der Bau eines Zwischenlager für hochradioaktiven Atommüll in Castor-Behältern geplant ist.

13.10.1980

Tumulte im Lüchow-Dannenberger Kreistag, als die Gorleben-Frauen den ausschließlich männlichen Abgeordneten ihre Aufwartung machen und ihnen für ihre Zustimmung zum Bau eines Zwischenlagers auf der ehemaligen Tiefbohrstelle 1003 aus Teig gebackene "Missgeburten" überreichen.
Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag

Die ganze Geschichte: