Proteste gegen die Pläne, in Dragahn eine WAA zu errichten. "Gorleben statt Kreta" und Demos im Grenzgebiet zwischen der DDR und BRD. Das Bundeskabinett unter Helmut Kohl stimmt der "untertägigen Erkundung" des Salzstocks Gorleben zu.
Januar
Im Januar beginnen Pastoren und Christen auf Markt- und Dorfplätzen im Wendland aus Protest gegen den WAA-Bau mit wöchentlichen Schweigestunden.
"Hannoversches Wendland": Am 9. Januar macht sich bei Regen und Sturm eine Abordnung verschiedener Widerstandsgruppen aus dem Wendland zu Fuß auf zu einem Anti-Atom-Protestmarsch mit Ziel Hannover.
21.01.1983
Am 21. Januar spricht sich der Kreistag Lüchow-Dannenberg auf seiner Tagung in Schnega mit 22 gegen 18 Stimmen für die "Prüfung" von Dragahn als WAA-Standort aus. An den Fenstern und Eingängen des Sitzungssaals kommt es immer wieder zu Raufereien zwischen der Polizei und rund 500 AKW-Gegner:innen.
Am 29. Januar erreicht der Protestmarsch die Landeshauptstadt. Dort wird aus Protest gegen die WAA-Pläne in Dragahn die "Arche Wendland" errichtet, ein Fachwerkhaus aus Öko-Baustoffen, Bühne für Kultur und kritische Informationen. An der Demonstration nehmen ca. 5.000 Menschen, überwiegend aus dem Wendland, teil.
Am 3. April behindern 800 Ostermarschierer:innen die Baugrunduntersuchungen in Dragahn. Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag
Mai
PTB empfiehlt Alternative Standortsuche
05.05.1983
Am 5. Mai erklärt Professor Helmut Röthemeyer, damaliger Leiter der Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), dass eine "interne Gesamtbewertung" der bis dahin vorliegenden Untersuchungsergebnisse zum Salzstock Gorleben empfehle, "das Erkundungsrisiko breiter zu streuen": "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" sei es nicht möglich, "die Barrierewirkung am Standort Gorleben abschließend zu bewerten". Das Risiko könne jedoch durch "vorsorgliche Erkundungsmaßnahmen an anderen Standorten" verringert werden. Die PTB wollte also neben Gorleben weitere Salzstöcke erkunden.
06.05.1983
Eine zweiten Fassung des PTB-Berichts, die am 6. Mai veröffentlicht wird, klingt deutlich positiver. Die bisherigen Erkenntnisse über den Salzstock Gorleben hätten die Hoffnung auf Eignung des Standorts "voll bestätigt", heißt es dort. Allerdings findet sich auch in dieser Version noch die Empfehlung alternative Standorte zu erkunden.
In der Endfassung des PTB-Berichts, der im Mai erscheint, sind die Ausführungen über die mögliche Erkundung anderer Standorte verschwunden. Zwei Jahre später erfährt die Presse, dass die Bundesregierung der PTB per Weisung untersagt hatte, derartige Überlegungen anzustellen. Stattdessen wird die "Eignungshöffigkeit" von Gorleben bestätigt.
Am 23. Mai besetzen Hundert Bürger*innen ein leer stehendes Bahnwärterhäuschen in Dragahn, um dort eine Infostelle gegen den geplanten WAA-Bau einzurichten. Eine Woche später reißen Bagger das Gebäude nieder.
Gorleben ist überall - Zum Beispiel in Dragahn.
Ein paar Häuser, eine Försterei. Das abgeschirmte Gelände einer Delaborieranlage. Geheimnisumwittert. Im zweiten Weltkrieg Schauplatz für die TNT-Produktion. Arbeitsdienst, Gefangene, Frauen, deren Haare sich rot färbten, weil sie das Brunnenwasser getragen hätten, so wurde erzählt. Ein verwaister Ort, aber plötzlich, im Mai 1983, war Leben im Wald.
Um den Herren in legerem Zivil hat sich schnell ein diskutierender Pulk gebildet. Er könne sich vorstellen, demnächst mein Einsatzleiter zu werden, antwortet er auf meine Frage, in welcher Funktion er denn auftrete und lässt seine Dienstwaffe dezent unbetont unterm Blouson baumeln. Kräuselt die Stirn. Vorm Bahnwärterhaus im Dragahner Forst kuscheln und drängen sich übernächtigte Gestalten zusammen. Sie haben die leeren Räume besetzt, Fensterglas eingesetzt, gestrichen und Blumenkübel bepflanzt. Die Mainächte sind verdammt kühl. Sehen gar nicht wie Gewalttäter aus, entbieten ihm, dem Einsatzleiter, und seinen Begleitern in Uniform sogar einen guten Morgen und frische Brötchen.
Wer soll das auch alles aufessen: 60 Brötchen und 10 Liter frisch gebrühter Kaffee wurde schon vor 6 Uhr früh gebracht, von Sympathisanten. Polizeilich präventiv wolle er vorgehen, denn die Platzbesetzung der Bohrstelle 1004 war schließlich erst 2 Jahre her, verrät der Zivile noch. Könnte aus der Besetzung eines verlassenen Bahnwärterhäuschens durch eine Handvoll Entschlossener nicht schnell der Funken werden, der zum Steppenbrand sich ausweitet? Schön wär´s denke ich. Wo denn unsere Sprecherin sei, meint der Polizeichef nun und betont die weibliche Form: Sprecher-in. Oha, der ist ja gut informiert, hat schon die Morgenzeitung gelesen, denn dort wurde tatsächlich eine Sprecherin zitiert. Wir, die WAA-GegnerInnen, würden das Häuschen als Infostelle herrichten.
Die erste Filmnacht unter freiem Himmel lockte viele Ortsansässige an. Demnächst sollten im Wald Flachbohrungen stattfinden, um den Baugrund zu erkunden, und das wolle man verhindern! Man schreibt das Jahr 1983.
Nun gab es zwei Brennpunkte der Anti-AKW-Bewegung, Gorleben und Wackersdorf.
Schon fünf Jahre später zog die DWK die Pläne für den Bau von Wiederaufarbeitungsanlagen endgültig zurück, abgebrannte Brennelemente deutscher Atomkraftwerke wurden nach Frankreich, nach Cap de la Hague gekarrt, der Müll kommt nach der chemischen Bearbeitung dennoch zurück – wie ein Bumerang nach Gorleben.
Wolfgang Ehmke, Pressesprecher der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, 2019
Quelle: u.a. Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag
Juni
08.06.1983
Am 8. Juni wird die Salzlaugen-Pipeline, die zur Erkundung des Endlagers von Bedeutung ist, an mehreren Stellen beschädigt. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
14.06.1983
"Gorleben statt Kreta" titelt die taz am 14. Juni: Über vier Wochen finden im Wendland zwischen dem 18. Juni bis 17. Juli "Aktions- und Sommercamps" statt. Nach einem Vorbereitungstreffen am 30.4. im Gasthaus Behr in Gülden heisst es in der "Dokumentation zu den Sommerlagern 1983 in der Atomregion Gorleben und Dragahn": Zeltplätze werde es in Schmölau, Golefanz, 2x Pudripp, Bülitz, Trebel, Meuchefitz und Dragahn geben. Es gebe Platz für ca. 500 Menschen.
"Ende des Jahres soll der erste Atommüll in Gorleben eingelagert werden. Es wird also BRENZLIG!"
Quelle: taz
23.06.1983
Am 23. Juni dringen 40 AKW-Gegner:innen in das Infohaus der Zwischenlagerbetreiber in Gorleben ein und entwenden das Informationsmaterial. Ein Modell der Atomanlage wird zerstört. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
23.06.1983
In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni durchtrennen Aktivist:innen an drei Orten (bei Künsche) in Bau befindliche Stromleitungen, die für die Endlagerbaustelle bestimmt sind. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
25.06.1983
Auf das Gelände des Celler Brunnenbau findet am 25. Juni ein Brandanschlag statt. "Um der Firma Celler Brunnenbau die Gefährlichkeit weiterer Bohrungen im Landkreis Lüchow-Dannenberg deutlich zu machen." Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
26.06.1983
Am 26. Juni wird die Starkstromleitung zum Endlager an elf Stellen zerstört. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
27.06.1983
Am 27. Juni findet in Dannenberg eine erste "spontane Häuserkampfdemo" statt: "Räumt das Zwischenlager, nicht die Häuser!" heißt es mit Verweis auf aktuelle Räumungen in Berlin. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
28.06.1983
28. Juni: Baubeginn in Dragahn. Unter massiven Sicherheitsvorkehrungen beginnt die Bohrfirma Celler Brunnenbau mit den ersten bauvorbereitenden Massnahmen für die WAA. Barrikaden und Buhrufe können die Arbeiten nicht stoppen. In der Nacht kommt es zu Rangelein mit der Polizei, Wurfobjekte fliegen, Reifen von Polizei- und Bohrfahrzeugen werden zerstochen. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
29.06.1983
Am 29. Juni erschweren massive Barrikaden aus Baumstämmen die Zufahrt zu den Bohrplätzen. Im Briefkasten des Kreishauses wird eine "Notdurft" gefunden, der Kommentar: "Wir bauen viel Scheiße, aber wir nutzen sie." Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
30.06.1983
Mit Eiern und Bauschutt wird am 30. Juni das Büro das Dannenberger Samtgemeindedirektors beworfen. Dieser ist mitverantwortlich für den Abriss des Bahnwärterhäuschens in Dragahn. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
Juli
01.07.1983
Am 1. und 2. Juli kommt es im Landkreis zu mehreren Blockadeaktionen.
"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
auf der Suche nach dem geeignetsten Standort für unsere Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) sehen wir uns leider gezwungen, nicht nur im Dragahner Forst, in dem wir jetzt mit unserem Bohrprogramm begonnen haben, sondern auch an diesem Ort Baugrunduntersuchungen durch Probebohrungen vorzunehmen. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir diese öffentliche Verkehrsfläche nunmehr dafür
abgesperrt haben. Wir bitten Sie im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit, diese Bohrstelle in den nächsten Tagen zu melden bzw. weiträumig zu umfahren." Unterzeichnet mit "Ihre DWK" geistern diese Flugblätter durch den Landkreis.
Im Verlauf der Sommercamps besetzen am 2. Juli Gorleben-GegnerInnen das "Niemandsland" zwischen Bundesrepublik und DDR. Am 2. Juli 1983 wird das erste Camp nahe Blütlingen errichtet, ungefähr zehn Kilometer südöstlich von Lüchow. Die Besatzer werden teilweise von den Bewohnern der umliegenden Dörfern versorgt. "An der Wiese führte ja ein Seitenarm der Jeetzel vorbei. Wir haben uns in Schlauchboote gesetzt und Lebensmittel darin transportiert", erzählt Hans-Joachim Kroulik. Er war in den Achtzigern Vorsitzender der Dorfgemeinschaft in Blütlingen. (NDR, 27.06.2008)
Die Aktivist*innen beklagen: Das Wendland ist von drei Seiten von der ehemaligen Grenze der DDR und der Elbe umgeben. Bei einem Atomunfall werde Lüchow-Dannenberg zu einer "Falle". Neben der Offenlegung von Katastrophenschutzplänen fordern sie ein Ende der Arbeiten im Dragahner Forst.
Wir haben versucht, die Katastrophenpläne zu bekommen, die für den Fall einer atomaren Katastrophe in Gorleben vorbereitet waren. Wir, die wir östlich von Gorleben wohnten, saßen ja in der Falle. Sollte es zu einer atomaren Katastrophe kommen, konnten wir, bei vorwiegend westlichen Winden, der Gefahr nicht entrinnen - im Osten war die Elbe und die deutsch-deutsche Grenze. Darum haben wir die Idee entwickelt, dies durch eine Aktion deutlich zu machen. So entstand der Gedanke, ein Camp im Niemandsland auf DDR-Territorium zu errichten. Dort waren wir dem Zugriff der westlichen Sicherheitskräfte entzogen und gleichzeitig war es für die DDR-Grenzorgane zumindest erschwert gewesen, uns wegzuräumen. Wir sind davon ausgegangen, das wir dort relativ sicher sind. Wir wollten aber auch kein Risiko eingehen und nicht in die DDR verschleppt werden. Wenn die Militärpräsenz zu stark geworden wäre, hätten wir uns zurückgezogen. Aber wir haben auch ein bisschen auf den Schutz der Medien vertraut. Wenn Radio, Fernsehen und Presse dabei sind, dann wird man keinen internationalen Konflikt vom Zaun brechen. (Dieter Schaarschmidt im NDR, 26.06.2008)
Quelle: u.a. NDR, 26./27.06.2008
04.07.1983
Zwischen dem 4. und 7. Juli legen Aktivist:innen auf wendländischen Straßen Nagelbretter aus. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
05.07.1983
Am 5. Juli machen sich etwa 40 Menschen zwischen Gartow und Schnackenburg auf den Weg in den Osten. In Gummern schlagen sie ihre Zelte auf.
Wir sind mit Zelten, Planen, Kochgeschirr und Brennholz auf das Gebiet gegangen. Es war ja warm und sommerliches Wetter. Wir waren eine lockere Campinggesellschaft - aber natürlich mit politischem Hintergrund. Wir hatten unsere Forderungen gestellt und Transparente gemalt. Und bei allem war ein Nervenkitzel dabei: Was passiert jetzt? (Dieter Schaarschmidt im NDR, 26.06.2008)
"Erst hüpften sie am vorletzten Wochenende südlich des Grenzdorfes Teplingen über einen Wassergraben, dann, vorigen Dienstag, spazierten sie, 32 Kilometer entfernt, beim Grenzdorf Gummern südlich Schnackenburg aus einem westdeutschen Föhrenhain ins ostdeutsche Brachland hinüber." (SPIEGEL vom 11.07.1983)
Ungefährlich ist die Besetzung des Niemandslandes nicht. Die Soldaten der Nationalen Volksarmee hätten jederzeit durch geheime Grenzöffnungen zu den Campern gelangen und sie in den Osten verschleppen können. "Die Gefahr war da", so Schaarschmidt. Auch Marianne Fritzen, Atomkraftgegnerin der ersten Stunde im Wendland, bestätigt das. "Diese Gefahr musste jeder eingehen. Sie hätten den Zaun einfach aufmachen können oder schießen." (NDR, 26.06.2008) Quelle: u.a. SPIEGEL, 11.07.1983 - NDR, 26./27.06.2008
08.07.1983
Die Polizei riegelt am 8. Juli das Kreishaus in Lüchow ab. Atomkraftgegner:innen wollten sich hinsichtlich der Katastrophenschutzvorkehrungen bei Atomunfällen erkundigen. Aus Protest wird der Verkehr in Lüchow lahmgelegt, indem die Fussgängerüberwege der Hauptverkehrsstraßen "ständig genutzt" werden. Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
09.07.1983
Zwischen dem 9. und 12. Juli werden die Waldspaziergänge in Dragahn "immer härter":
Ich beobachtete wie zwei Radfahrer von einem Polizeibus aufgefordert wurden anzuhalten... Der Polizeibus fuhr den beiden in die Quere, riss sie vom Rad runter und führte sie mit Polizeigriff in den Bus ab. Dorfbewohner, die die gesehen hatte, alarmierten die Leute vom Camp... Zahlreiche Polizeifahrzeuge, auch Mannschaftstransporter hatten sich eingefunden. Der Bus mit den festgenommenen Radfahrern fuhr inzwischen zur Personalienkontrolle ab, obwohl die beiden einen Personalausweis dabei hatten. Die mit den Transportern angekommenen behelmten Beamten stellten sich nun in einer Kette auf die Straße. Ich stellte mich mit anderen Leuten parallel zur Polizeikette auf. Der Einsatzleiter stellte nur eine Aufforderung, zählte dann bis drei, und schickte seine Beamten zur Räumung der Straße. Diese gingen sofort brutal mit Siefeltritten und Knüppel gegen uns vor. Wir gingen nach dieser ersten Rangelei langsam die Straße runter in Richtung Camp... Ein Beamter trat mir andauern in die Hacken, bis er mir ein Bein stellte. Ich fiel hin und wurde getreten. Ich rollte mich zusammen und spürt, wie mich weitere Stiefel trafen und erhielt einen Schlag mit einem Knüppel auf den Kopf. Dann wurde ich von zwei Beamten gepackt, einer fasste mich an den Haaren der andere am rechten Oberarm (Kratzwunden) und zogen mich hoch und schmissen mich auf die Straße. Ich war am weinen und ging ein Stück bis mir Schwarz vor Augen wurde und ich auf die Knie fiel. Ich zitterte am ganzen Körper und fühlte mich elektrisiert.. Ich wurde dann mit dem Krankenwagen ins Kreiskrankenhaus Dannenberg gebracht... Während ich mit dem Arzt sprach rief die Polizei. Der Arzt gab meine Personalien der Polizei durch... (Gedächnisprotokoll)
Quelle: Atom Express No. 36, Okt/Nov. 83
13.07.1983
Am 13. Juli stimmt das Bundeskabinett unter Helmut Kohl der zügigen Aufnahme einer "untertägigen Erkundung" für die abschließende Eignungsaussage des Salzstocks Gorleben zu. In dem Kabinettsbeschluss heißt es auch, dass derzeit keine Notwendigkeit bestehe, "auch die Eignung anderer Salzstöcke zu untersuchen".
Noch 1979 hielt die Atomlobby eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) mit 1.400 Tonnen Jahresdurchsatz für unerlässlich. Nachdem zwei Standorte für den Bau einer WAA in Hessen und in Rheinland-Pfalz ausgeschieden sind, läuft 1983 die komplizierte Genehmigungsprozedur für Wackersdorf (Bayern) und in Dragahn (Niedersachsen).
Nach dem Regierungswechsel in Bonn wollte die Elektrizitäts-Wirtschaft endlich voll auf Atom-Kurs gehen. Doch das rechnet sich nicht. Statt der geplanten zwei soll nur noch eine Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Uranbrennelemente gebaut werden. Nicht einmal die jetzt vorgesehene Minianlage (im Gespräch war eine Kapazität von lediglich 350 Tonnen pro Jahr) werde von Anfang an ausgelastet sein. Nach damaligen Planungen sollte die WAA 1992 in Betrieb gehen. (SPIEGEL)
"Die Atomgegner haben der deutschen Industrie die größte Fehlinvestition ihrer Geschichte erspart", so ein Ministerialbeamter aus dem Bonner Forschungsministerium. (SPIEGEL Nr. 29 vom 18. Juli 1983)
Quelle: u.a. SPIEGEL Nr. 29 vom 18. Juli 1983
14.07.1983
Ein Großaufgebot der Polizei durchsucht am 14. Juli das Sommercamp auf dem BI-Gelände in Trebel. Die Bewohner:innen werden zusammengetrieben und zum Teil gefesselt. Zelte und Fahrzeuge werden ohne richterlichen Beschluss durchsucht. Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag
Am Hiroshima-Tag, 6. August, demonstrieren 2.000 Menschen in Dragahn gegen die zivile und militärische Nutzung der Atomenergie.
15.08.1983
Fünf Lüchow-Dannenberger besetzen am 15. August zwei Baukräne auf dem Gelände des Zwischenlagers in Gorleben. Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag
September
03.09.1983
Am 3. September wird die Aufbewahrungsgenehmigung für das Zwischenlager Gorleben erteilt. In der Halle dürfen künftig 420 Transport- und Lager-Behälter vom Typ "Castor", umgerechnet 1.500 Tonnen Schwermetall (Uran, Plutonium und andere Spaltelemente) gelagert werden. Zwei Anwohner*innen klagen gegen die Genehmigung. Bis 1994 gibt es vom zuständigen Verwaltungsgericht Lüneburg kein Urteil.
09.09.1983
Am 9. September genehmigt das Bergamt Celle den im März 1982 beantragten Rahmenbetriebsplan für die Erkundung des Salzstocks Gorleben.
Im Oktober legt die "Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen" (DWK) einen im Detail ausgearbeitete Bauplan für eine WAA in Dragahn vor.
27.10.1983
Am 27. Oktober wird dem "Fasslager" die Genehmigung nach §3 StrSchV für die Lagerung konditionierter fester schwach- und mittelradioaktiver Abfälle aus Atomkraftwerken, Medizin, Forschung und Gewerbe erteilt.
November
Im November wird der Sicherheitsbericht für die WAA Dragahn ausgelegt. Bis zum Jahresende gehen 29.300 Einsprüche, davon rund 15.000 aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg, bei der Kreisverwaltung ein.
01.11.1983
Die BI Lüchow-Dannenberg schickt Luftballons in die DDR und fordert deren Bürger:innen zu Einsprüchen gegen die Wiederaufarbeitungsanlage auf. Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag
17.11.1983
Am 17. November beginnen erste Arbeiten zur Errichtung des Bergwerks zur untertägigen Erkundung des Salzstocks Gorleben.
24.11.1983
Sabotageaktionen gegen Firmen im Wendland, die den Bau des Zwischenlagers in Gorleben unterstützen. Quelle: Lieber aktiv als radioaktiv II, LAIKA-Verlag
Dezember
Zum Ende des Jahres wird das Gorlebener Atommülllager einer ersten technischen Probe unterzogen: Ein Lastwagen mit leeren Atommüllfässern kommt nicht durch das Tor der Lagerhalle, weil 15 Zentimeter lichte Höhe fehlen.
"Es war überhaupt keine Probe - denn schließlich hat es ja nicht funktioniert. Und im übrigen ist nicht das Hallentor zu niedrig, sondern der Lkw zu hoch", kommentiert Peter Bauhaus, führendes Mitglied der Bürgerinitiative. So, findet nicht nur Bauhaus, werden Bedenken allemal wegargumentiert - auch der Salzstock sei "bestens geeignet, nur die Naturgesetze taugen nichts".
Die ganze Geschichte:
…und davor – Die Anfänge bis 1972
Die Anfänge: Erste Überlegungen, Atommüll in Salz zu lagern – statt ihn in der Tiefsee zu versenken. Gasexplosion im Salzstock Gorleben-Rambow.
1973 – Zwei AKW für das Wendland
1973 werden die Pläne bekannt, bei Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk zu bauen. In der Debatte um einen Standort für ein Atommüll-Endlager bzw. die Errichtung eines Entsorgungszentrums spielt Gorleben 1973 offiziell keine Rolle.
1974 – Erste bundesweite Endlagersuche
Die Standortsuche für ein Atommülllager beginnt. Das Credo: So lange die Anlage genug Platz hatte und niemanden störte, war alles gut. Der Standort Gorleben hatte damit nichts zu tun.
1975 – Großer Waldbrand bei Trebel
Im August 1975 bricht bei Trebel ein großer Waldbrand aus. Die Bundesregierung geht bei der Standortsuche für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) davon aus, dass mehrere Salzstöcke parallel untersucht werden müssten. Gorleben gehört nicht dazu.
1976 – Der Standort „Gorleben“ taucht auf
(…) In einer zweiten Version der TÜV-Studie wurde handschriftlich der Standort Gorleben ergänzt und als am besten geeignet befunden. (…)
1977 – Das Jahr der Standortbenennung
Die Bedenken sind stark, doch Gorleben wird trotzdem zum Standort für den Bau eines gigantischen „Nuklearen Entsorgungszentrums“ benannt. Daraufhin finden erste Großdemonstrationen statt.
1978 – Ein Koffer voll Geld
Innerhalb von 5 Tagen sammeln Gorleben-Gegner*innen 800.000 DM, um der DWK beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen.
1979 – Treck nach Hannover – WAA „nicht durchsetzbar“
Im März 1979 findet der legendäre „Treck nach Hannover“ statt. Nach einer Großdemonstration in der Landeshauptstadt verkündet Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht das Aus für die WAA-Pläne in Gorleben.
1980 – „Republik Freies Wendland“
Platzbesetzung der Bohrstelle Gorleben 1004 und Gründung der „Republik Freies Wendland“. Die Räumung nach vier Wochen wird zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD.
1981 – Die Zweifel in Gorleben werden größer, nicht kleiner
Gorleben-Hearing in Lüchow zum Bau des Zwischenlagers und massiver Protest gegen das AKW Brokdorf. Nach Bohrungen werden die Zweifel an der Eignung des Salzstock Gorleben für ein Endlager „größer, nicht kleiner“. Doch Gegner*innen des Projekts seien „Schreihälse, die bald der Geschichte angehören“, meinen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl.
1982 – „Tanz auf dem Vulkan“
Baubeginn des Zwischenlagers wird mit Aktionen im Grenzstreifen zur DDR beantwortet, militante Eskalation beim „Tanz auf dem Vulkan“ und immer schlechtere Bohrergebnisse. Plötzlich ist das Wendland mit Dragahn wieder als ein WAA-Standort im Gespräch.
1983 – Dragahn: Eine WAA wird verhindert
Proteste gegen die Pläne, in Dragahn eine WAA zu errichten. „Gorleben statt Kreta“ und Demos im Grenzgebiet zwischen der DDR und BRD. Das Bundeskabinett unter Helmut Kohl stimmt der „untertägigen Erkundung“ des Salzstocks Gorleben zu.
1984 – Menschenkette und Tag X
„Das Vertrauen hat sehr gelitten“: Menschenkette und Wendland-Blockade gegen die WAA-Pläne. Unter erheblichem Protest erreicht ein erster Atommülltransport das Fasslager Gorleben.
1985 – „Spudok“-Affäre, Probe-Castor und Kreuzweg
Ein erster leerer Probe-Castor erreicht das Wendland. Der erste Kreuzweg führt vom AKW Krümmel nach Gorleben. Nach Anschlägen auf die Bahn werden die Daten von tausenden Gorleben-Gegner*innen von der Polizei gespeichert – und damit eine ganze Szene pauschal kriminalisiert.
1986 – Baubeginn im Bergwerk, Wackersdorf & Tschernobyl
Baubeginn im Bergwerk Gorleben. Heftige Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und das AKW Brokdorf. Nach dem GAU von Tschernobyl protestieren zehntausende Menschen gegen die Atomenergie.
1987 – 10 Jahre Protest in Gorleben
Schwerer Unfall in Schacht 1 des Bergwerks in Gorleben. „Transnuklearskandal“ betrifft auch Atommüll im Zwischenlager, Proteste gegen den Bau der PKA.
1988 – „Wir stellen uns quer!“
Kreuzweg der Schöpfung führt von Wackersdorf nach Gorleben, Schmiergeldskandal, „Wir stellen uns quer“ – Proteste gegen den ersten Probecastor ins Zwischenlager.
1989 – Castor-Alarm im Wendland
Das Aus für die WAA Wackersdorf, Castor-Alarm: erster Atommülltransport nach Gorleben wird wenige Stunden vor Abfahrt gerichtlich gestoppt.
1990 – PKA-Bauplatz- und Turmbesetzung
„Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann…“, als auf dem Bauplatz der PKA Hütten errichtet werden. Aktivist*innen besetzen im Sommer den Förderturm in Gorleben, zum Jahresende Baustopp und SPD-Versprechen.
1991 – Mol-Skandal & Baustopp
Proteste gegen die Anlieferung von Mol-Container, PKA-Bauplatzbesetzung, erneuter „Castor-Alarm“ und nächster Baustopp im Erkundungsbergwerk.
1992 – Viel Geld für den Landkreis
Resolution gegen und eine Mehrzweckhalle für Gorleben, Erweiterung des Zwischenlagers und viel Geld für den Landkreis.
1993 – CASTOR-HALLE-LUJA und Endlagerhearing
Sitzblockaden gegen Atommüll-Lieferungen, „Wege aus der Gorleben-Salzstock-Sackgasse“, Energiekonsens-Gespräche und hohes Bussgeld gegen Turmbesetzer*innen.
1994 – Pleiten, Pech und Pannen: „Castornix“
Widerstandscamp „Castornix“ und erhebliche Proteste gegen ersten Castortransport, der wegen technischer Mängel dann abgesagt wird. Weiterbau der PKA per Weisung.
1995 – Tag X, Backpulver & Stay rude-stay rebel
Anschläge auf Bahn & Kran, die Aktion „ausrangiert“ will den ersten Castor empfangen, Bundesumweltministerin Merkel macht den absurden Backpulver-Vergleich & der Baustopp im Bergwerk wird aufgehoben.
1996 – „Wir stellen uns quer!“
10 Jahre nach Tschernobyl, „Wir stellen uns quer!“ gegen den zweiten Castor nach Gorleben.
1997 – Stunkparade gegen Sixpack
Gewaltsame Räumung für den dritten Castor, Griefahn knickt ein & mehr Geld von der BLG.
1998 – Castor-Skandal und TagX4 in Ahaus
Einwendungen gegen die PKA, Castortransport nach Ahaus, Transportestopp nach verstrahlten Behältern, Einstieg in den Atomausstieg und Moratorium im Salzstock.
1999 – „Gerhard, wir kommen“ & X-tausendmal quer
„Flickschusterei“ um Atomausstieg & AkEnd, Stunkparade nach Berlin und die Ankündigung, dass sich beim nächsten Castor X-tausend Menschen querstellen werden.
2000 – Atomkonsens & Moratorium
Defekte Brücke und unsichere Behälter verhindern Castorlieferung, Atomkonsens „alles Lüge“, denn er sichert den Weiterbetrieb der AKW und Moratorium im Salzstock.
2001 – X-tausendmal quer & Widersetzen
Zwei Atommülltransporte rollen nach Gorleben, einer im März, ein zweiter im November. X-tausend Menschen stellen sich quer und WiderSetzen sich. Der Betonblock von Süschendorf zwingt den Castor zum Rückwärtsgang. Der Widerstand bekommt ein Archiv, die Bundestagsabgeordneten ein Denkmal, die „Gewissensruhe“.
2002 – Castor im „dreckigen Dutzend“
25 Jahre nach der Standortbenennung künftig keine Wasserwerfer mehr gegen den Widerstand, Freispruch im Süschendorf-Prozess, Ver-rück-te Dörfer gegen zwölf Castorbehälter, Rechenfehler und ein Abschlussbericht des AKEnd.
2003 – Der Castor kommt, wir sind schon da!
Betonklötze für Betonköpfe, „Fest zum Protest“, der Salzstock wird besetzt, der siebte Castor rollt. Atomausstieg: das AKW Stade geht vom Netz – aber die Endlagersuche bleibt weiter unklar.
2004 – Castor-Proteste nehmen dramatische Wendung
Schienensitzen ist keine Straftat, das Einkesseln rechtswidrig, Trash People in Gedelitz, eine Veränderungssperre für den Salzstock zemetiert dessen Sonderstellung. Der Castortransport im Herbst verändert alles: Sebastién wird überfahren und stirbt.
2005 – 10 Jahre Castor, Entsorgungsfrage weiter ungelöst
25 Jahre nach der „Republik Freies Wendland“ und 10 Jahre nach dem ersten Castortransport ist die Entsorgung des Atommülls weiter ungelöst. In die Debatte um die Entsorgung des Atommülls und die Zukunft der Atomenergie kommt Bewegung, die Veränderungssperre für den Salzstock wird verlängert. Container brennen, Bauern ziehen sich aus – und im November rollt der nächste Atommüllzug ins Zwischenlager.
2006 – Seit 30 Jahren Widerstand im Wendland
Geologe Grimmel warnt vor Erdbeben, die CDU kann sich in Gorleben ein Untertagelabor vorstellen. „Wir sind gekommen um zu bleiben“: Castorproteste im Herbst mit einer eigenen „Allgemeinverfügung gegen Atomwirtschaft und Polizeiwillkür“ und ein Offenbarungseid von Umweltminister Sigmar Gabriel.
2007 – Ein Jahr ohne Castor
Der Widerstand feiert 30 Jahre Protest, ein Probecastor im Sommer aber keine „heiße Fracht“ im Herbst, stattdessen Kinderkrebsstudie und G8-Gipfel in Heiligendamm.
2008 – Asse-2 säuft ab
Endlager-Symposium & Probebohrungen in Hamburg, absaufende Asse-2, 1 Millionen Jahre Endlager-Sicherheit und ein nächster Castortransport im November.
2009 – Treck nach Berlin
Brisante Enthüllungen: Gorleben wurde aus politischen Motiven zum Endlagerstandort. Seit Jahren wird nicht nur „erkundet“, sondern ein Endlager gebaurt. „Mal so richtig abschalten“ – ein Protest-Treck aus dem Wendland führt zu einer großen Demo gegen AKW-Laufzeitverlängerung nach Berlin. Kein Castortransport, seit Oktober finden jeden Sonntag Spaziergänge um das Bergwerk statt.
2010 – Atomkraft: Schluss jetzt!
Krümmel-Treck, Ketten-Reaktion, Atomkraft-Schluss!, Castor XXL: die Antwort auf die AKW-Laufzeitverlängerung sind die größten Anti-Atom-Demonstrationen, die es in Deutschland je gab.