Am 26. Juli ordnet das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) den Sofortvollzug für weitere Castortransporte nach Gorleben an. Darunter sollen sich erstmals auch Glaskokillen aus der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague befinden.
Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder kündigt am 12. August an, dass Niedersachsen künftig weitere Transporte nach Gorleben auch gegen den Widerstand von Atomkraftgegnern durchsetzen werde, "wenn die Sicherheitskriterien erfüllt seien". (Hannoversche Allgemeine, 14.8.95)
Am 13. August bezeichnet die niedersächsische Landesregierung die Pläne, noch im November jeweils einen Castor aus dem bayerischen Atomkraftwerk Gundremmingen und einen aus der französischen WAA La Hague in das Zwischenlager Gorleben zu transportieren, als "unrealistisch". Die Handhabung der Behälter müsse noch geprüft werden.
Anschlag auf Verladekran
22.08.1995
Mit Schweißbrennern werden in der Nacht vom 21. auf den 22. August zei der vier Träger der Castor-Verladekrans in Dannenberg durchtrennt. Einen dritter Träger wird in einer Länge von etwa einem Meter angeschnitten. Der Kran kippt allerdings nicht um. Die benutzten Gasflaschen und Trennwerkzeuge werden von den unbekannten Brandstiftern unter dem Kran angezündet. Die Feuerwehr Dannenberg muß löschen. Die Verladestation war zur Tatzeit nicht bewacht. Den Maschendraht der Umzäunung hatten die Täter zuvor an mehreren Stellen durchtrennt.
Gegen 2 Uhr war die Strasse, die von der Bundesstraße 191 zur Verladestation führt mit einem Umleitungsschild und einem Trassierband abgesperrt worden, auf einem Zusatzschild war zu lesen: "Achtung Sprengung. Lebensgefahr". In der Mitte der Bundesstraße brennt ein Auto: Ein von den Unbekannten ganz offensichtlich mitgebrachter und mit Reifen beladener Pkw Opel Kadett Kombi ohne Kennzeichen steht in Flammen. Drei Nagelbretter werden auf die Fahrbahn gelegt und Strohrundballen auf und neben der Straße angezündet.
Parallel findet ein Anschlag auf das Zwischenlager Gorleben statt: Etwa 30 unbekannte Personen hatten sich dort getroffen und kurzfristig einen totalen Stromausfall im Zwischenlager verursacht, indem sie Wurfanker über zwei Stromleitungen werfen. Mit Leuchtraketen wird auf das Zwischenlagergelände geschossen. Einen dabei entstandenen kleinen Böschungsbrand löschen die Wachleute. Glasscheiben des Pförtnerhäuschens am Zwischenlager werden mit Farbe besprüht, u.a. mit Sprüchen wie "Stop Castor". Mit einem Stein wird eine Scheibe des Verwaltungsgebäudes zerstört. Das Tor zur geplanten Pilotkonditionierungsanlage (PKA) mit einem Vorhängeschloß dichtgemacht.
Die Betreiber sprechen von 300.000 DM Sachschaden und setzen eine Belohnung zur Ergreifung der TäterInnen aus. Die Anschläge sind aller Wahrscheinlichkeit nach ein Protest gegen weitere Atommülltransporte, so die Polizei. Ermittelt wird wegen Sachbeschädigung und Brandstiftung.
"Wir brauchen uns nicht zu distanzieren", so BI-Sprecher Wolfgang Ehmke in einer ersten Reaktion auf die Anschläge gegenüber der EJZ. Als BI habe man nämlich nicht zu Sachbeschädigungen aufgerufen und werde dies auch in Zukunft nicht tun, betont Ehmke.
Es reiche nicht aus, wenn Niedersachsens Ministerpräsident Schröder Gewalt nur verurteile, sondern "es muß energischer gehandelt werden", fordert CDU-Politiker Grill.
Quelle: u.a. EJZ vom 23.08.1995
29.08.1995
Anschlag auf die Bahnstrecke Uelzen - Dannenberg. Bei Bad Bevensen wird ein Kabel und einen Schaltkasten in Brand gesetzt, wodurch ein Schaden von rund 70 000 Mark entsteht und zeitweilig der Bahnverkehr beeinträchtig wird. Am Tatort wurde ein Aufkleber mit der Aufschrift "Castor-Alarm 2, Tag X — Jetzt erst recht! Wir stellen uns quer!" gefunden.
Quelle: DPA, 30.8.95; Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag
24.10.1995
Der folgenschwerste Anschlag einer ganzen Serie von Sabotage auf Einrichtungen der Bahn setzt am 24. Oktober die Hauptstrecken Hamburg - Hannover und Hamburg - Bremen stundenlang außer Betrieb. Insgesamt 34 Reisezüge stehen still oder müssen umgeleitet werden, darunter zwölf ICE-Züge. Tausende von Pendlern kommen zu spät zur Arbeit. In allen sechs Fällen werden die Oberleitungen durch Hakenkrallen oder Wurfanker, die sich in den Stromabnehmern der Lokomotiven verfingen, zerstört.
Nach Angaben der Bahn AG sind durch die Anschläge allein in diesem Jahr Sachschäden von zwei bis drei Millionen Mark verursacht worden. Nach einer Agenturmeldung sind seit dem ersten Castortransport allein in Norddeutschland mindestens dreißig Anschläge auf Bahneinrichtungen verübt worden. Die Polizei hat zwei Sonderkommissionen eingesetzt, aber noch keinen Verdächtigen präsentieren können.
Quelle: u.a. Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag
27.10.1995
Am 27. Oktober wird bekannt, dass die Bahn wegen der Anschlagsserie prüft, ob sie in Einzelfällen Transporte von Castor-Behältern verweigern kann. Außerdem will der Konzern sich künftig die Schäden im Zusammenhang mit Atomtransporten von den AuftraggeberInnen bezahlen lassen (sog. Haftungsfreistellung).
28.10.1995
Bundesweiter Aktionstag gegen Atomkraft und Castor-Transporte mir schwacher Beteiligung. In der Bad Homburger Fußgänmgerzone verdeutlicht ein 200 Meter langer "Zeitstrahl": "Hätten die Neandertaler Atomkraftwerke gebaut, wären heute immer nich 99,99 Prozent des radioaktiven Uran 235 vorhanden." In Kiel blockieren AKW-Gegner:innen die Abfahrt eines IC-Zuges. Demonstrationen werden aus Berlin, Kassel, Lübeck und dem Wendland gemeldet.
Als Teil des bundesweiten Aktionstages gegen Castor-Transporte starten die Castor-Ortsgruppen aus Lüchow-Dannenberg Aktivitäten unter dem Motto "Wir verschönern den Landkreis". An vielen Orten werden neue Transparente, Beschriftungen, Plakate Stelltafeln und Strohpuppen angebracht.
Quelle: u.a. Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag
Oktober
30.10.1995
In einem Interview mit der "Welt am Sonntag" äußert ein Sprecher des Bundesgrenzschutzes am 30. Oktober die Befürchtung, daß die Zahl der Anschläge auf Bahnanlagen im Zusammenhang mit Castor-Transporten noch zunehmen werden.
Dezember
Ende 1995 wird genehmigt, das zulässige Radioaktivitätsinventar des Fasslagers Gorleben (Zwischenlager für schwach- und mittelaktiven Atommüll) um das 1000-Fache zu erhöhen. Hintergrund ist die Absicht, bitumierte radioaktive Abfälle aus der französischen WAA Cap de La Hague und mittelaktive Komponenten in Gorleben einzulagern.
18.12.1995
Eine erneute Anschlagserie auf Bahnanlagen wurde am 18. Dezember verübt. Innerhalb von gut zwei Stunden erfolgen acht Anschläge mit Wurfankern, die die Oberleitungen beschädigten und den Zugverkehr auf den Strecken zwischen Mannheim und Frankfurt sowie zwischen Frankfurt und Fulda stundenlang lahmlegten. Die Polizei findet Flugblätter mit Parolen wie "Stoppt Castor" oder "Atomtransporte stoppen".
Quelle: FAZ, 19.12.95
19.12.1995
In der folgenden Nacht (19. Dezember) wird die Rheintalstrecke bei Dieblich durch einen umgesägten Bahnstrommasten blockiert. Die Bahn beziffert den Sachschaden auf mehrere hunderttausend Mark.
Quelle: FAZ, 21.12.95
1996
13.02.1996
Bei einem Besuch der Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) in der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague wird am 13. Februar bekannt, dass dort ein Castor-Behälter vom Typ "TS 28 V" demnächst mit hochradioaktiven Glaskokillen beladen werden soll. Als möglicher Transporttermin für den Fahrt in das Zwischenlager Gorleben wird die erste Maiwoche genannt.
Februar
20.02.1996
Die Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Susanne Kamien, und die grüne Landtagsabgeordnete Rebecca Harms kündigen weitere Protestaktionen gegen Castor-Transporte ins Zwischenlager Gorleben an. Mit der Aktion "Frühjahrsputz" wollen sie im April die Kosten der Sicherheitsmaßnahmen derart in die Höhe treiben, daß die Transporte aus Kostengründen eingestellt werden müssen. Es gehe darum, den bevorstehenden Castor-Transport mit radioaktiven Abfällen aus LaHague gegenüber des Castors 1995 "noch einmal wesentlich zu verteuern", so Kamien.
Quelle: taz, 20.2.96
14.03.1996
In einem Schreiben an Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) und die Betreiberin des Atomkraftwerk Gundremmingen lehnt Niedersachsens Innenminister Glogowski am 14. März den angekündigten Doppel-Castor aus dem AKW und der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague in Frankreich ab. Der Schutz von zwei Transporten in zeitlicher Nähe bei unvermindert anhaltendem Widerstand könne "nicht gewährleistet werden". Ein polizeilicher Großeinsatz sei nicht "beliebig oft wiederholbar und politisch vertretbar." Eigentliche polizeiliche Aufgaben würden in "bedenklichem Maße eingeschränkt".
26.03.1996
Am 26. März stellt die Bürgerinitiave Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI) einen Kinospot vor, der in den nächsten Wochen in zahlreichen Großstadtkinos für den Widerstand gegen den angekündigten Castor-Transport werben soll.
April
Im April wird bekannt, dass es keinen Doppel-Castortransport aus dem AKW Gundremmingen und der WAA La Hague nach Gorleben geben wird. Der Behälter im bayerischen AKW werde nicht beladen. Niedersachsens Innenminister Glogowski hatte die fehlenden Kapazitäten für beide Transporte bei der Polizei schon im März angemahnt, jetzt sind sie die offizielle Begründung für die Absage. Damit braucht auch die für den 28. April angekündigte Aktion "Ausrangiert" auf dem Anschlußgleis des AKW Gundremmingen nicht stattfinden.
"Frühjahrsputz" in Dannenberg
06.04.1996
Am 6. April beteiligen sich etwa 3.000 Menschen an der Aktion "Frühjahrsputz" in und um Dannenberg. Nach einer Kundgebung und einer Demonstration durch die Stadt blockiert die Bäuerliche Notgemeinschaft mit ihren Treckern eine Umgehungsstraße. Auf dem Marktplatz kann derweil an einem Gleisstrang das Zersägen der Schiene geübt werden. Trotz des Demonstrationsverbots versammeln sich rund 1.000 AktivistInnen am Bahnhof Dannenberg, ein Teil von ihnen besetzt die Schienen am Verladekran. Bevor es zu größeren Beschädigungen der Schienen kommt, räumt ein Polizeiaufgebot die Gleise unter Einsatz eines Wasserwerfers. Nach Polizeiangaben wurden drei Demonstranten und ein Polizist verletzt, 25 Demonstranten seien vorübergehend festgenommen worden. Am Dannenberger Westbahnhof werden unterdessen die Schienen mit großen Steinen und Betonteilen verbarrikadiert. Zum Abschluss der Aktion wird der Stadt Dannenberg ein Denkmal aus zu einem X zusammengeschweißten Bahnschienen übergeben.
09.04.1996
Am 9. April wird durch einen Wurfanker die Oberleitung auf der Bahnstrecke Hannover - Berlin beschädigt. Die Strecke muss drei Stunden lang gesperrt werden.
13.04.1996
Wegen der Ankündigung einer Neuauflage der Aktion "Ausrangiert" am Dannenberger Verladekran erlässt der Landkreis am 13. April eine "Allgemeinverfügung", ein Demonstrationsverbot rund um den Kran.
14.04.1996
Am 14. April findet zum zweiten Mal die Aktion Zivilen Ungehorsams "Ausrangiert" am Dannenberger Verladekran statt. Trotz Demonstrationsverbot nehmen 2.000 Menschen teil und versuchen öffentlich die Schienen zu demontieren. Polizei und Bundesgrenzschutz versuchen das Demoverbot mit einem Großaufgebot durchzusetzen. Nach einem Gottesdienst und einer Kundgebung gelangen mehrere hundert AktivistInnen auf die Gleise und beginnen "mit der Arbeit". Der Bundesgrenzschutz räumt die Menschen mit einem massiven Einsatz von Hunden und Wasserwerfern.
"Feierabendsägen" am Castor-Gleis
16.04.1996
Zwischen dem 16. und 24. April versammeln sich jeden Abend bis zu 200 Aktivist*innen zum "Feierabendsägen" auf dem Dannenberger Castor-Gleis.
Am 16. April unterhöhlen "rund 200 meist jugendliche Demonstranten" das Gleisbett auf rund hundert Meter Länge. Zwanzig Bahnschwellen werden in Brand gesteckt. Die Polizei schreitet nicht ein, weil sie "hoffnungslos unterbesetzt" ist. Die Feuerwehr wird am Löschen gehindert. Der Bundesgrenzschutz wird erst im Laufe der Tage wieder Herr der Lage. Die überregionale Presse schreibt von "angereisten Chaoten und Gewalttätern", obwohl hauptsächlich SchülerInnen aus Lüchow-Dannenberg an den Aktionen beteiligt sind.
18.04.1996
In der Nacht zum 18. April werden an den Kundenzentren der Hamburgischen Electricitäts-Werke in den Stadtteilen Eimsbüttel und Altona mehrere Scheiben eingeworfen. In Eimsbüttel wird anschließend Buttersäure verschüttet und ein Paket mit Flugblättern "Stoppt Castor" hinterlassen.
20.04.1996
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet am 18. April, dass die beiden Bundestagsabgeordneten Elisabeth Altmann aus Bayern (Bündnis 90/Die Grünen) und Eva Bulling-Schröter (PDS) einen in der "tageszeitung" abgedruckten Aufruf, die Schienen vor dem Atomkraftwerk Gundremmingen "gewaltfrei und festlich zu demontieren" unterzeichnet haben. Angesichts der Gefahren von Atomtransporten sei "der Schutz des Lebens ein höheres Gut sei als der Schutz des Eigentums", heisst es in der Erklärung.
"Natürlich tut es den Atomkraftgegnern weh, wenn ihre Aktivisten im Wendland als Gesetzesbrecher und Kriminelle bezeichnet werden. Aber sie müssen hinnehmen, daß beide Bezeichnungen zutreffend sind. Es handelt sich um Sachbeschädigung und Transportgefährdung, wenn Schienen durchsägt und Schwellen verbrannt werden — um Gesetzesbruch also, like it or not. Und Leute, die Gesetze brechen, sind nun einmal Kriminelle." Kommentar von Sibylle Tönnies, Professorin an der Fachhochschule Bremen, in der taz am 20. April
Quelle: taz, 20.4.96
20.04.1996
Unter dem Motto "Tag B" begutachten ca. 1.000 AtomkraftgegnerInnen am 20. und 21. April den Zustand der teilweise maroden Brücken auf den Castor-Strecken Uelzen-Dannenberg und Lüneburg-Dannenberg. Treffpunkte sind um 12 Uhr Lüneburg, Uelzen und Dahlenburg. Bei einer Rangelei nimmt die Polizei vier Personen fest. An einer Brücke beim geplanten Atommüllager Schacht Konrad findet von Braunschweiger Anti-Castor-Gruppen eine Solidaritätsaktion statt.
Quelle: u.a. Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag
24.04.1996
Am 24. April wird bei Lüchow ein Strommast erklommen und ein großes Transparent entfaltet: "Stop AKWs"
25.04.1996
Am 25. April kommt der Fern- und Nahverkehr zwischen Hannover und Göttingen durch eine bei Northeim abgelegte Bombenattrappe für drei Stunden zum Erliegen.
27.04.1996
Am 27. April explodiert an der Bahnstrecke Lüneburg-Dannenberg neben einer Brücke bei Nahrendorf ein Sprengsatz. Ein Loch wird in den Gleisunterbau gerissen, die naheliegende Brücke bleibt unbeschädigt. Ein Schienenbus passiert die Stelle, nach Ansicht des ermittelnden Staatsschutzes beim Landeskriminalamt Hannover "wäre eine schwere Lokomotive die Böschung hinabgestürzt".
27.04.1996
Am gleichen Tag (27. April) gibt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg grünes Licht für die Einlagerung von hochradioaktiven Glaskokillen aus der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague im Zwischenlager Gorleben.
30.04.1996
Auf einem Acker bei Splietau, in Sichtweite zum Dannenberger Castor-Verladekran und der Straßentransportstrecke, entsteht ab dem 30. April ein neues Hüttendorf "Castornix".
30.04.1996
Nach Angaben des Landeskriminalamts Hannover kursiert innerhalb der Szene der Castor-Gegner*innen eine Broschüre mit dem Titel "Wir stellen uns quer", berichtet am 30. April die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In dem Heft werde "nicht nur zu Sabotageakten aufgefordert", sondern es seien auch "genaue Anleitungen zur Herstellung von Sprengsätzen und Wurfankern sowie zum Lösen von Schwellenschrauben" enthalten. Die anonymen Verfasser der Broschüre sehen "den Kampf gegen die Atommafia, wie er sich neuerlich gegen den Castor artikuliert, als Teil des Kampfes gegen das kapitalistische System".
Quelle: FAZ, 30.04.96
01.05.1996
Am 1. Mai findet erneut ein Anschlag auf die Bahnstrecke Uelzen-Hannover statt. Ein umgesägter Strommast beschädigt die Oberleitungen von 4 Gleisen. Teile der überregionalen Presse schreibt von "Terror".
01.05.1996
Am 1. Mai protestieren in Lüchow 100 Kinder mit Trommeln und Trillerpfeifen gegen den angekündigten Atommülltransport.
02.05.1996
Die seit drei Wochen ohnehin hohe Polizeidichte rund um Dannenberg wächst am 2./3. Mai "ins Unermeßliche".
03.05.1996
Am 3. Mai wird entlang aller möglichen Castortransportstrecken (Straßen und Schienen) im Landkreis Lüchow-Dannenberg das Demonstrieren verboten. Die Verfügung gilt für neun Tage.
03.05.1996
Am 3. Mai sind 28 "Gorleben-Frauen" mit einer Performance in U-Bahnschächten mehrerer Großstädte unterwegs und zeigen, daß "Gorleben überall ist". Es kommt zu weiteren Anschlägen auf Bahnstrecken in Niedersachsen und Brandenburg. Anrufer bei Rundfunksendern drohen damit, "auf der Strecke Helmstedt-Hannover im Viertelstunden-Takt Sprengsätze hochgehen zu lassen".
Wir stellen uns quer!
04.05.1996
Am 4. Mai demonstrieren in Dannenberg 10.000 Menschen gegen den bevorstehenden Castortransport aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague ins Zwischenlager Gorleben. 150 Traktoren rollen in der Demo mit. Nach der Kundgebung wird auf der Umgehungsstraße von Tausenden ein Menschenbild mit dem Schriftzug "Wir stellen uns quer" gebildet.
Demonstraten blockieren mit Baumstämmen die Gleise, Polizisten räumen die Sperren.
Bei Karwitz kesselt die Polizei am Abend ca. 150 Aktivist:innen ein, die sich auf der Bahnstrecke Uelzen-Dannenberg niedergelassen hatten. Um diese "Gefangenen" abtransportieren zu können, räumt die Polizei mit massiver Gewalt (Schlagstock und Wasserwerfer) die Zufahrtsstraße, auf der sich mehrere hundert Menschen aus Protest gegen den Kessel versammelt hatten.
Quelle: u.a. Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag
05.05.1996
Viele kleinere und größere Aktionen begleiten im Wendland am 5., 6. und 7. Mai das Warten auf den nahenden Castortransport. Bei Tag und Nacht demonstrieren im Wendland tausende Menschen, dass der Atommülltransport nicht problemlos durchkommen wird.
06.05.1996
In der Nacht zum 6. Mai werden laut einer Meldung der Deutschen Presse Agentur Polizisten von "300 meist vermummten und mit Holzstangen bewaffneten Kernkraftgegnern angegriffen", als sie versuchten, "eine Blockade der Bahnstrecke zwischen Lüchow und Dannenberg aufzulösen".
07.05.1996
In Jameln kommt es am 7. Mai zu einer Blockade des Castor-Tiefladers für den Straßentransport. Weil einige Leute den leeren Schwertransporter mit einer Sitzblockade an der Weiterfahrt hindern, greift die Polizei hart durch: Mit Wasserwerfer, grober Räumung und einem tief fliegenden Hubschrauber wird die Straße frei gemacht. Als sich der Landwirt Adi Lambke mit seinem Trecker vor den Wasserwerfer stellt, schlagen Beamte die Scheiben des Schleppers ein und zerren den alten Mann brutal aus der Kabine. Lambkes Kopf wird von hinten festgehalten, während man ihm mehrere Male mit der Faust ins Gesicht schlägt. Er versuchte seine Fahrzeugtür von innen mit einem Frontladerzinken zu verriegeln, was ihm jedoch nicht gelang. Diesen Zinken benutzt er dann, um sich gegen die Schläge der Beamten zu schützen. Die Bilder des blutenden Lambke laufen am Abend auf sämtlichen Fernsehsendern und sorgen für Empörung. Ihm werden später "Nötigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und versuchte Körperverletzung" vorgeworfen.
Der zweite Castor rollt
07.05.1996
Am 07. Mai um 12.50 Uhr überquert der Castortransport bei Wörth / Lauterbourg die deutsch-französische Grenze und beginnt in Deutschland seine von Protesten begleitete Reise ins Wendland.
Die Weiterfahrt erfolgt über Kandel, Landau und Neustadt an der Weinstraße, um 14.46 Uhr erreicht der Transport Ludwigshafen. Mehrere hundert Polizisten sichern die Strecke in Rheinland-Pfalz. Um 15.13 Uhr wird die Landesgrenze zu Hessen bei Worms über die Rheinbrücke passiert.
Kurz hinter Darmstadt wird der Zug gegen 16.00 Uhr zum ersten Mal blockiert, Polizisten tragen AtomkraftgegnerInnen von den Gleisen.Der Castor rollt weiter über Aschaffenburg, Lohr, Burgsinn, Neuhof, Fulda und Bad Hersfeld. Um 18.48 Uhr wird Bebra erreicht, dort werden beide Diesel-Loks aufgetankt. Eine halbe Stunde früher als geplant geht es um 20.01 Uhr weiter Richtung Kassel und Minden.
Tag X2 - 8. Mai 1996
08.05.1996
Um Mitternacht erreicht der Transport Windheim an der Weser. In der ganzen Nacht gehen Bombendrohungen ein. Ein Unbekannter droht, eine Bombe auf dem Flughafen Hannover explodieren zu lassen. Bei Oldenburg wird wegen einer Bombendrohung eine Bahnstrecke gesperrt. Im Hildesheimer Bahnhof brennen vier Bahnschwellen. In Bielefeld werden sechs AktivistInnen beim Verbarrikadieren einer Bahnstrecke festgenommen. Da bei Göttingen die Gleise besetzt sind, wird ein Umweg über Nienburg, Verden und Soltau genommen.
Um 2.51 Uhr wird Uelzen erreicht, nach 42 Minuten Aufenthalt rollte der Transport über die eingleisige Güterstrecke Richtung Dannenberg weiter. Um 5.56 Uhr, 50 Minuten später als vorgesehen, steht der Transporter unter dem Verladekran am Bahnhof Dannenberg.
Der Transportzug setzte sich wie folgt zusammen: 1x Diesellok - 3x Personenwaggon, türkis-beige mit BGS-Beamten - 1x Castorbehälter auf einem grüngestrichenen Güterauflieger - 1x Personenwaggon - 1x Diesellok. Bis nach Uelzen fuhr vor dem Castortransport ein Vorauszug, der sich aus 1x Diesellok - 3x Personenwaggon - 1x gelber Streckenwagen zur Schienenkontrolle zusammensetzte.
08.05.1996
Ein Landkreis im Ausnahmezustand: 9.000 Beamt*innen von Bundesgrenzschutz und Polizei stehen 6.000 Demonstrant*innen gegenüber.
Nach der mehrere hundert Meter lange Tross mit dem einen Tieflader um 7.09 Uhr die Straßentransportstrecke befährt, kommt es schon auf den ersten Metern zu massiver Gewalt durch die Polizei. Vereinzelt fliegen daraufhin Steine und Flaschen. Diese Szenen werden von Medien und Politik genutzt, um die Mär vom "Krieg im Wendland" zu stricken. Im Morgengrauen werden weit entfernt von der Transportstrecke ca. 170 Trecker der Bäuerlichen Notgemeinschaft beschädigt und stillgelegt.
Um 11.14 Uhr hat der Konvoi erst die Hälfte der etwa 18km langen Strecke zurückgelegt. Vor dem Zwischenlager spitzt sich die Situation zu. Die Polizei räumt eine Straßenblockade von 300 Demonstranten. Auf den letzten Kilometern kommt der LKW nur im Schritttempo voran. Das Großaufgebot der Polizisten muss immer wieder Sitzblockaden von Demonstranten und brennende Barrikaden aus dem Weg räumen. Zwei Stunden später (13.07 Uhr) rollt der Tieflader inmitten unzähliger Einsatzfahrzeuge der Polizei durch das Tor zum Zwischenlager.
500 Demonstrant*innen werden an diesem Tag in polizeiliche Gewahrsam genommen, mehr als 100 Personen verletzt. Dieser Polizeieinsatz, einer der größten in der Geschichte der BRD, zeigt unverblümt das Gesicht eines Atom-Polizeistaates. Für den Schutz des Transports wurden bundesweit rund 15.000 Polizisten aufgeboten, davon allein 9.000 in Niedersachsen. Die Kosten werden auf 90 Millionen DM geschätzt, ein neuer Rekord.
09.05.1996
Ein Polizeisprecher erklärt, es habe sich bei den Auseinandersetzungen um den Castortransport "um die brutalsten Übergriffe auf die Polizei, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat", gehandelt.
"Ein Land, das ohnehin genug zerrissen ist, zwischen Ost und West, Reich und Arm, Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, kann vieles brauchen, nur nicht einen weiteren Konflikt, den am Ende keiner gewinnen kann. Und der nicht zuletzt deshalb so erbittert geführt wird, weil beide Seiten im Recht sind."
Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Mai
09.05.1996
Nach den Auseinandersetzungen in Gorleben äußern Politiker, u.a. Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) am 9. Mai in einer Aktuellen Stunde des Bundestags, und Vertreter der Energiewirtschaft erneut den Wunsch nach einem Energiekonsens, der den Transport und die Entsorgung radioaktiver Abfälle miteinschließen solle. Daraufhin lädt der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) zu einem Gespräch am 14. Juni ein, an dem außer den beiden Politikern auch der EVS-Vorstandschef Wilfried Steuer als Präsident des Deutschen Atomforums und PreussenElektra-Chef Dieter Harig teilnehmen sollen.
09.05.1996
Atomkraftgegner*innen analysieren am 9. Mai die "brutalsten Übergriffe auf die Polizei, die es in der Bundesrepublik je gegeben hat" (Polizeisprecher): Von den 19.000 eingesetzten Beamt*innen wurden 27 verletzt, davon drei durch Bisse von Polizeihunden, einige durch Stolpern beim Verlassen der Einsatzfahrzeuge, andere erlitten wegen Überanstrengung einen Kreislaufkollaps. Wieder andere trugen noch leichtere Blessuren davon. Schwere Verletzungen durch Einwirkung von Demonstrant*innen gab es keine.
11.05.1996
Im Wendland reparieren am 11. Mai mehr als 100 Aktivist*innen Zäune entlang der Castortransportstrecke, die von flüchtenden DemonstrantInnen am Tag X2 niedergerissen wurden.
13.05.1996
Unter dem Motto "Wir erheben Anklage" ruft die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg in einer Zeitungsanzeige am 13. Mai dazu auf, mit Gedächnisprotokollen und eidesstattlichen Erklärungen dazu beizutragen, möglichst viele Übergriffe der Polizei vom Tag X2 zu dokumentieren und zur Anklage bringen zu können.
27.05.1996
Am 27. Mai kündigt die Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) für Herbst 1996 ein Sammeltransport mit drei Castor-Behältern aus den Atomkraftwerken Gundremmingen und Neckarwestheim in das Zwischenlager Gorleben an.
11.06.1996
Weil die "junge Welt" im Vorfeld des Castor-Transports ein Bekennerbrief zum Abmontieren von Strommasten dokumentierte, werden am 11. Juni die Redaktionsräume durchsucht.
26.06.1996
In einer Landtagsdebatte in Hessen am 26. Juni erklärt Innenminister Gerhard Bökel (SPD), dass die hessische Landesregierung künftig keinen Polizeischutz mehr gewähren wolle, wenn Castor-Transporte durch Hessen rollen und dabei von Atomkraftgegner*innen behindert werden. Die Kosten seien zu hoch, in der Bevölkerung gäbe es Ängsten, zudem sei die Vielzahl dieser Transport unsinnig.
27.06.1996
Unter Berufung auf ein Gesprächsprotokoll für den hessischen Innenminister berichtet die Süddeutsche Zeitung am 27. Juni, dass sich Vertreter des Bundesinnenministeriums, der Länder und des Bundesgrenzschutzes bereits Anfang März auf einer gemeinsamen Sitzung darauf verständigt hätten, daß es dieses Jahr nur einen Castor-Transport von La Hague nach Gorleben geben soll.
17.07.1996
In einem Interview mit der Hannoveraner "Neue Presse" am 17. Juli erklärt der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD), er wolle durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz am 19. September sicherstellen lassen, daß keine weiteren Castor-Transporte ins Zwischenlager Gorleben stattfinden. Er reagiert damit auf die Ankündigung der Landespolizeidirektion Stuttgart, die den Transport aus dem Atomkraftwerk Neckarwestheim voraussichtlich Anfang November bestätigt hatte.
09.08.1996
Am 9. August stellen AtomkraftgegnerInnen 110 Strafanzeigen gegen Polizei- und BGS-Beamte im Zusammenhang mit Übrgriffen beim dem letzten Castor-Transport.
2000
27.09.2000
Ob der Polizeieinsatz beim so genannten "Karwitzer Kessel" während der Anti-Castor-Demonstration Anfang Mai 1996 rechtens war, wollen die Lüneburger Verwaltungsrichter am 27. September nicht entscheiden und verweisen diese Frage an das Amtsgericht Dannenberg. "Es handelt sich um Maßnahmen der Polizei und des BGS, dafür sind wir nicht zuständig", erklärt ein Gerichtssprecher nach der Verhandlung.
Quelle: Elbe-Jeetzel Zeitung
Historisches Urteil: Karwitzer Kessel rechtswidrig2004
06.04.2004
Der Karwitzer Kessel am 4. Mai 1996 und der folgende undifferenzierte Freiheitsentzug für Castor-Gegnerinnen waren rechtswidrig, urteilt das Amtsgericht Dannenberg am 6. April. Ein Beschluss mit historischer Bedeutung, denn es war seinerzeit die erste Klage von Castor-Gegnern, die sich gegen das Vorgehen und den Freiheitsentzug der Polizei gerichtlich wehrten und damit - wenn auch erst acht Jahre später - Recht bekamen.
Die Freiheitsbeschränkung war "von Anfang an, also bereits dem Grund nach rechtswidrig". Die Betroffenen befanden sich zu keinem Zeitpunkt auf den Schienen, sondern neben dem Gleiskörper. "Für eine Beteiligung an den behaupteten Straftaten (aufgeschraubte Schienenmuttern) fehlen jegliche personenbezogene Anhaltspunkte. Im Übrigen war diese Tat bereits beendet und der Schienenkörper war bereits geräumt", so Amtsrichter Thomas Stärk in seinem Beschluss. Eine undifferenzierte Festnahme sei rechtswidrig, und die Polizei hätte den Gleiskörper ja auch einfach abriegeln können: "Kräfte waren genug vor Ort".
Geklagt hatten ursprünglich 20, aus Kostengründen später dann drei Castor-Gegnerinnen, begleitet von der Hamburger Rechtsanwältin Ulrike Donat.
Quelle: Elbe-Jeetzel Zeitung