1994:
Castornix
Pleiten, Pech & Pannen: Widerstandscamp "Castornix" und erhebliche Proteste gegen den ersten Castortransport in das Zwischenlager Gorleben, der wegen technischer Mängel dann aber abgesagt wird.
1994
Nachdem im Vorjahr wegen fehlerhaften Schweißverfahren beim Aufbringen eines Ersatzdeckels bei Undichtigkeit kein Castorbehälter nach Gorleben rollen konnte, soll 1994 der erste Castor kommen. Lieferant soll das Atomkraftwerk Philippsburg in Baden-Württemberg sein. Im Protest gegen die Nuklearlieferung erlebt die Anti-Atom-Bewegung ein Comeback.
27.04.1994
Mit Änderung der Aufbewahrungsgenehmigung am 27. April wird das "Schweißnaht-Problem gelöst". Die Genehmigung gilt aber nur für einen älteren Behälter-Typen "Castor 2a", der nur noch in fünf Atomkraftwerken Anwendung findet.
24.05.1994
Am 24. Mai teilt der Betreiber der Zwischenlagers Gorleben dem Bundesamt für Strahlenschutz mit, dass neun abgebrannte Brennelemente aus dem AKW Philippsburg-2 in einem Castor-Behälter nach Gorleben gebracht werden sollen.
Juni
Anfang Juni wird bekannt, dass der Castortransport zwischen dem 27. Juni und dem 10. Juli in Philippsburg beladen werden und in der Woche ab dem 11. Juli in Gorleben eintreffen soll.
06.06.1994
Am 6. Juni startet die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit einer Veranstaltung die fünfte Anti-Castor-Mobilisierung. In den darauf folgenden Tagen treffen sich die verschiedenen örtlichen Gruppen, Aktionskonzepte werden entwickelt, Inserate in der "Elbe-Jeetzel-Zeitung" geschaltet und der Landkreis nach und nach mit Plakaten und Parolen verziert. Täglich und nächtlich gibt es mehrere Aktionen.
11.06.1994
Am 11. Juni erklären 17 BürgermeisterInnen, der Landrat und seine zwei StellvertreterInnen per Inserat: "Wir stellen uns quer!"
19.06.1994
Am 19. Juni beschließen süddeutsche Anti-Atom-Initiativen auf einem Treffen in Karlsruhe die Beobachtung des AKW Philippsburg. Außerdem werden verschiedene Aktionen für das Vorfeld und den konkreten Transporttermin vorbereitet.
21.06.1994
Eine "Gruppe Waschbär" verübt am 21. Juni einen Anschlag auf das Infohaus der Zwischenlager-Betreiberin in Gorleben, bei dem 20.000 DM Schaden entstehen. Am gleichen Tag blockieren über 100 SchülerInnen "probeweise" für knapp eine Stunde die Lüchower Innenstadt. Vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg wird zudem eine Klage gegen die geänderte Aufbewahrungsgenehmigung des Zwischenlagers eingereicht. Parallel dazu erfolgt die Ankündigung, sollte die Klage keine aufschiebene Wirkung für den Castortransport haben, würde man einen Eilantrag auf Aufhebung des Sofortvollzugs folgen lassen.
23.06.1994
Am 23. Juni sprechen sich alle Pastoren des Kirchenkreises Dannenberg gegen den Atommüll-Transport aus, am "Tag X" wollen sie Andachten und Gottesdienste abhalten. In der Nacht werden bei einem Anschlag auf die Güterbahn- und damalige Castortransportstrecke Uelzen - Dannenberg 19 Bahnschwellen in der Mitte zersägt und anschließend die Schienen verbogen.
25.06.1994
Der zwölfachsige Spezial-Bahnwaggon trifft am 25. Juni mit einem leeren Castor-Behälter am AKW Philippsburg ein.
27.06.1994
Am 27. Juni wird der Atommüll-Behälter per Kran vom Waggon zur Schleuse in der Reaktorkuppel des AKW Philippsburg-2 gehoben und eingeschleust.
28.06.1994
Am 28. Juni wird bekannt, dass der Bund den Sofortvollzug für die geänderte Aufbewahrungsgenehmigung des Zwischenlagers Gorleben angeordnet hat. Damit hat die am 21. Juni in Lüneburg eingereichte Klage keine aufschiebende Wirkung mehr. Einige Tage später beantragen die KlägerInnen wie angekündigt die Aufhebung des Sofortvollzugs.
30.06.1994
Zwei Tage später, am 30. Juni, erklärt die Niedersächsiche Umweltministerin Monika Griefahn in einem Brief an die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, dass sie "alle Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft" habe, die Inbetriebnahme des Zwischenlagers zu verhindern. Sie teilt mit, sie werde selbst "am Tage X präsent sein". Am gleichen Tag demonstrieren über 30 Trecker in Dannenberg zur Wochenmarktzeit gegen den drohenden Castortransport.
Juli
Der "Risikotransport quer durch die Republik", überraschend angekündigt, wird von Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) als "Kriegserklärung Bonns" und "unverständliche Provokation" angesehen. Die offizielle Haltung der Landesregierung ist gegen den Transport und gegen die Atomanlagen in Gorleben. Carsten-Uwe Heye, der Sprecher von Ministerpräsident Gerhard Schröder sieht dennoch in den Aktivitäten der Castor-GegnerInnen "unangenehme Reste der Anti-AKW-Bewegung am Werk".
Hüttendorf "Castornix"
02.07.1994
Neun Tage vor dem angekündigten Transporttermin beginnen am 2. Juli AtomkraftgegnerInnen im Wald bei den Atomanlagen Gorleben mit dem Bau eines Hüttendorfs: Hütten werden gezimmert, Planen zwischen den Bäumen gespannt, aus dem Unterholz erwächst die Trutzburg "Castornix".
06.07.1994
"Castor, bleib wo Du bist", "Wir haben Angst" oder "Wenn der Castor kommt, stellen wir uns quer!": Am 6. Juli nehmen die Inserate gegen den Atommüll-Transport in der "Elbe-Jeetzel-Zeitung" inzwischen mehr als eine Seite ein. Erneut werden Anschläge auf die Bahnstrecke verübt, Eisen und Bäume liegen auf den Schienen.
"Der Schiet wird immer blöder, erst der Albrecht, nun der Schröder"
Transparentspruch am 7. Juli 1994 in Hitzacker
07.07.1994
Für den 7. Juli hat der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) seine Teilnahme an einer Veranstaltung zum Castor-Streit im Kurhaus Hitzacker angekündigt. Am frühen Morgen werden auf allen Zufahrtsstraßen des Landkreises Lüchow-Dannenberg die verschiedensten Blockaden errichtet. In einer Erklärung wird Landes-Umweltministerin Monika Griefahn an ihr Versprechen erinnert, mit zu blockieren, wenn der Castor kommt. Auf der Veranstaltung in Hitzacker kündigt Schröder an, dass das Land durch "gründliche Prüfungen" der Philippsburger Unterlagen den Versuch unternehmen werde, den Transport zu verzögern. Andererseits bekennt er sich dazu, "im Zweifelsfall auf der Seite des Rechtsstaates zu stehen", auch wenn dieser die Atomindustrie schütze:
"Wir verweigern dem Atomstaat den Gehorsam", kündigten die Atomgegner dem Ministerpräsidenten an. Motto: "Wir stellen uns quer.""Wer sich querstellt, muß mit Konsequenzen rechnen, es gibt keine Zivilcourage zum Nulltarif", "Der Staat darf vor Einzelinteressen nicht zurückschrecken, seien sie moralisch noch so integer".
09.07.1994
Trotz erster Meldungen, dass sich der angekündigte Transporttermin wahrscheinlich nicht einhalten lässt, versammeln sich am 9. Juli 2.000 Menschen aus dem Wendland und dem ganzen Bundesgebiet vor den Gorlebener Atomanlagen und im Hüttendorf "Castornix". Über 30 Trecker versperren die Zufahrt zum Zwischenlager, weitere Blockaden, u.a. mit einem Belagerungsturm, werden errichtet. Die Polizei hält sich zurück.
"Kummt de Atomschiet in de Kiste, stellt wi den Traktor up de Piste."
Bäuerliche Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg
10.07.1994
Am folgenden Tag (10. Juli) wächst das "Castornix"-Hüttendorf auf 1.000 Menschen an, die Blockade der Zwischenlagerzufahrt dauert an.
11.07.1994
11. Juli: Der angekündigte Abfahrtstermin verstreicht, ohne dass sich der Castor in Bewegung setzt. Der Behälter wurde bis dahin noch nicht aus dem Inneren des AKW Philippsburg ausgeschleust.
13.07.1994
Am 13. Juli räumt die Polizei das Hüttendorf "Castornix". Der Belagerungsturm wird zersägt, Straßenuntertunnelungen wieder zugeschüttet. Rund 800 Beamt*innen müssen etwa 400 Atomkraftgegner*innen wegtragen, die Polizei verhält sich dabei relativ zurückhaltend und lässt die Holzhütten stehen. Begründung für die Räumung ist der Erlass eines Versammlungsverbots, das im Umkreis von ca. vier Kilometern um die Atomanlagen Gorleben so lange gelten soll, bis der Atommülltransport aus dem AKW Philippsburg das Zwischenlager erreicht hat.
15.07.1994
Am 15. Juli gibt der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) bekannt, dass der Castor-Transport nicht vor Ende der Sommerferien am 31. August rollen kann. In der Urlaubszeit stünden "nicht genügend Einsatzkräfte" der Polizei und des Bundesgrenzschutzes zur Verfügung. Daraufhin wird das Versammlungsverbot aufgehoben. Noch am Abend kehren die ersten AtomkraftgegnerInnen wieder in das Hüttendorf "Castornix" zurück.
16.07.1994
Statt einer angekündigten Demonstration gegen das Versammlungsverbot ziehen am 16. Juli eintausend Menschen in einem "Triumphzug" zum Zwischenlager Gorleben. Kleinere Gruppen bauen Barrikaden, die Fahrbahn wird Richtung Gorleben und Gedelitz unterhöhlt. Vor dem Zwischenlager blockieren Traktoren, es steht dort ein Sofa, bruzzelndes Grillfleisch, mittendrin eine Nähmaschine, auf der grüne Wendland-Wimpel umsäumnt werden. 100 Aktivist:innen überwinden den ersten Schutzzaun zum Zwischenlager.
Wir harren aus, "wir bleiben hier bis zum Eintreffen des Castor, wir haben uns hier, häuslich niedergelassen", so Peter Bauhaus von der BI. Auf einmal lasse die Landesregierung die Castor-Protokolle prüfen. "Warum geht plötzlich etwas, was vorher unmöglich war?" In dieser Sache "haben wir beim Innenministerium nachgefragt", berichtet Bauhaus, "und erfahren: Man habe den Widerstand vor Ort unterschätzt". Den Politikern in Hannover wirft der Redner vor, ihr Nicht-Handeln sei in "Feigheit vor der Atomindustrie" begründet. "Deshalb muß die Initiative von uns ausgehen", forderte Bauhaus und ruft aus: "Die Zeit der Ruhe ist vorbei — und der Mut wächst."
Nach der Kundgebung findet ein Open-Air-Konzert mit Bands aus Hamburg, Stuttgart und Lüchow-Dannenberg statt. Am Hüttendorf wird weitergebaut.
Quelle: Elbe-Jeetzel Zeitung vom 22.7.1994
19.07.1994
Am 19. Juli wird der mit neun abgebrannten Brennelementen beladene Castor-Behälter vom Typ "2a" aus dem Reaktor des AKW Philippsburg-2 ausgeschleust und auf den Spezial-Bahnwaggon verladen.
20.07.1994
Am 20. Juli muss die Polizei Bundesumweltminister Klaus Töpfer den Weg zu einer Veranstaltung in Scharnebeck freikämpfen.
21.07.1994
Umweltministerin Monika Griefahn (SPD) bekräftigt, daß eine Zustimmung ihrer Behörde unabhängig von den formalen Prüfungen unwahrscheinlich sei, da der Atommüll-Transport nach Gorleben "völlig überflüssig" sei und eine "unnötige Strahlenbelastung" darstelle (Handelsblatt, 21. Juli 1994). Der Atommülltransport aus dem AKW Philippsburg-2 in das Zwischenlager Gorleben ist laut des AKW-Betreibers EnBW technisch nicht notwendig. Das Abklingbecken im AKW hätte noch Platz für weitere Brennelemente bis zum Jahre 2011.
25.07.1994
Wegen der hohen Waldbrandgefahr beschließen die Bewohner*innen des Hüttendorfs "Castornix" am 25. / 26. Juli einen Umzug an die Elbe bei Pölitz, etwa 3 km nördlich von Gedelitz.
02.08.1994
2. August: Bundesumweltminister Töpfer stellt Niedersachsens Umweltministerin Griefahn ein Ultimatum zur Bearbeitung der Papiere für den Castortransport aus dem AKW Philippsburg nach Gorleben "bis 15.00 Uhr".
04.08.1994
Am 4. und 5. August machen die "Gorleben-Frauen" eine Informationsreise vom AKW Philippsburg Richtung Gorleben. Auf zwei von vier denkbaren Transportstrecken machen die Frauen an 13 Bahnhöfen Station, machen in zahlreichen persönlichen Gesprächen vor Ort auf die Strahlengefährdung durch einen Castor aufmerksam und unterstreichen, wie überflüssig ein solcher Transport sei.
Ob in Hannover, Göttingen, Darmstadt, Mannheim oder Frankfurt, Karlsruhe, Bonn und Köln: Die Informationen über den geplanten Castor-Transport "haben die Leute schon erschüttert", sagt Edelgard Gräfer aus Sallahn. Sie war eine von zwölf hiesigen Gorleben-Frauen, die sich an zwei Tagen auf eine "Ochsentour" begehen hatten: Mit der Bahn reisten sie bis nach Philippsburg, von wo aus der Castor nach Gorleben kommen soll, und zurück.
In Philippsburg, wo der Castor nach wie vor transportbereit im Außenbereich des Atomkraftwerkes steht, bringen die Gorleben-Frauen in einem symbolischen Akt das Motto des Lüchow-Dannenberger Widerstandes zum Ausdruck: Sie legen sich quer. Der Zwischenstopp in Bonn wird für eine Pressekonferenz mit dem BUND genutzt.
Quelle: Elbe-Jeetzel Zeitung09.08.1994
Am 9. August gibt das niedersächsische Umweltministerium bekannt, dass es bei der Beladung des Castor-Behälters im Atomkraftwerk Philippsburg-2 zu einer "Pannenserie" gekommen sei.
Gleich zu Beginn der Beladung entdeckten Techniker etwa 180 Gramm Nickelspäne im Behälterschacht, die von der Nachbearbeitung der Nickel-Innenbeschichtung beim Hersteller stammt und nicht abgesaugt wurde.
Nachdem die Techniker den 120 Tonnen schweren Behälter im Brennelementebecken mit seiner heißen Fracht bestückt hatten, wollten sie den inneren der beiden Deckel aufsetzen. Doch dieser „Primärdeckel“, der bei richtigem Sitz ein Stück in den Schacht hineinragt, verkantete sich. Das Personal hob ihn wieder ab und entdeckte eine kaputte Elastomerdichtung. Die Wasserverdrängung des gut fünf Tonnen schweren Primärdeckels hatte eine so große Strömung erzeugt, daß die Dichtung herausgeschwemmt wurde. Man hätte zwar den Deckel nach der Herstellung acht- oder neunmal ausprobiert; doch immer im Trocknen, so Klaus Janberg, einem der Geschäftsführer sowohl der Gessellschaft für Nuklearservice als auch der für den Bau des Castor verantwortlichen Gesellschaft für Nuklearbehälter. Denn im Werk fehle ein Becken, um zehn Meter unter Wasser zu üben.
Nach dem Ersetzen der kaputten Dichtung unternahm das Bedienungspersonal den zweiten Versuch. Doch wieder verkantete der Deckel, diesmal so stark, daß er sich nicht mehr abheben ließ. Die Techniker hievten den beladenen Behälter daraufhin aus dem Becken und richteten den Deckel mit hydraulischen Werkzeugen aus. Da die Führungsbolzen aus Edelstahl verkratzt waren, tauschten sie sie gegen bronzene aus. Anschließend ging der Castor wieder zu Wasser. Jetzt gelang es, den Deckel zu lüpfen. Die Mannschaft zog die Brennstäbe wieder aus dem Behälter heraus, den sie daraufhin erneut aus dem Becken holte. Diesmal war nicht nur die Elastomerdichtung beschädigt. Deckel und Behälterkörper wiesen Reibspuren auf - allerdings nur an Stellen, die für die Dichtheit des Castor unerheblich sind. Um eine glatte Oberfläche wiederherzustellen, wurden die Kratzer einem Feinschliff unterzogen.
Erst mithilfe einer Hilfskonstruktion gelang es, den Primärdeckel im Brennelementebecken vorsichtig aufzusetzen. Als dann der Innenraum des Castor getrocknet werden sollte, fielen die Geräte zur Feuchte- und Druckmessung aus. Da Instrumente von gleichem Typ nicht zur Hand waren, benutzte die Mannschaft andere. Nachdem auch der zweite Feuchtemesser kaputtging, griff sie auf ein drittes Modell zurück. Die teilweise geringere Meßgenauigkeit der Ersatzgeräte spielte keine Rolle, da der Innenraum zuletzt erheblich trockener war als vorgeschrieben. Die Trocknung hatte allerdings viel länger gedauert als geplant: Die Bohrung im Deckel, durch die dem Inneren die Feuchte zu entziehen ist, erwies sich als zu klein.
"Sicherheitstechnische Defizite oder Lücken bestehen nicht", resümierte der TÜV Südwest, der die Beladung zusammen mit dem TÜV Hannover/Sachsen-Anhalt und der Berliner Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung überwacht hat.
Quelle: ZEIT, 2. Dezember 199413.08.1994
13. August: Da dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem das "Castornix"-Hüttendorf errichtet wurde, der Abriss der Bauten und Zwangsgelder in fünfstelliger Höhe angedroht werden, beginnen 50 Atomkraftgegner*innen mit dem Abbau des Dorfes.
17.08.1994
In einem Gespräch zwischen Bundesumweltminister Töpfer und Niedersachsens Ministerpräsident Schröder wird am 17. August deutlich, dass der Atommüll-Transport aus dem AKW Philippsburg wohl nicht mehr vor der Bundestagswahl am 16. Oktober nach Gorleben rollen wird.
19.08.1994
Mit klassischer Musik blockiert die Gruppe "Lebenslaute" am 19. August die Zufahrt zum Zwischenlager Gorleben. Mittags werden in einer Blitzaktion beide Tore mit Leitern überschritte und das Konzert findet etwa eine halbe Stunde "drinnen" und "draußen" statt.
August
20.08.1994
Am 20. August blockieren 20 Trecker die Dömitzer Brücke, eine der wichtigsten Zufahrtsstraßen zum Landkreis Lüchow-Dannenberg. Parallel startet in Gorleben eine "CastorNix-Karawane", die über die Atommülltransportwege bis zum Atomkraftwerk Philippsburg führen soll und über die Gefahren der Atommüll-Fuhre informiert.
19.09.1994
Die Initiative von Baden-Württembergs Umweltminister Harald B. Schäfer (SPD), den bereits auf den Bahnwaggon verladenen Castorbehälter in Philippsburg wegen "illegaler Lagerung" wieder auspacken zu lassen, scheitert am 19. September an einer Weisung aus dem Bundesumweltministerium in Bonn.
23.09.1994
Am 23. September gibt die niedersächsische Umweltministerin Monika Greifahn bekannt, dass sie dem geplanten Atommülltransport aus dem AKW Philippsburg nach Gorleben die Zustimmung verweigern wird.
26.10.1994
Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) erteilt am 26. Oktober seiner niedersächsische Amtskollegin Monika Griefahn (SPD) die bundesaufsichtliche Weisung, binnen zwei Wochen der seit Juli umstrittenen Einlagerung von neun verbrauchten Brennelementen aus dem AKW Philippsburg im Zwischenlager Gorleben zuzustimmen. Töpfer hatte sich zuvor mit dem Bundeskabinett abgestimmt. Ein Sprecher des niedersächsischen Umweltministeriums kündigt an, daß die Weisung mit Ablauf der gesetzten Frist befolgt werde. Umweltministerin Griefahn und Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) halten jedoch an ihrem Standpunkt fest, daß die "Castor"-Transportbehälter unsicher seien und es im AKW Philippsburg noch ausreichend Lagermöglichkeiten gebe.
Quelle: Handelsblatt, 27.10.1994
26.10.1994
Am gleichen Tag (26.10.) statten die "Gorleben-Frauen" Umweltminister Töpfer in Bonn einen Besuch ab.
"das Wendland dichtgemacht"
05.11.1994
Die Castor-Gegner im Wendland proben den Ernstfall. Weit über 1.000 Atomkraftgegner:innen blockieren für einen Tag lang die vier wichtigsten Zufahrtsstraßen zum Landkreis Lüchow-Dannenberg sowie die Bahnstrecke nach Dannenberg. Blockaden aus Möbeln, Strohballen sowie Sperren aus Traktoren sind im Norden, Süden und Westen errichtet worden: auf der B 4 in Uelzen, auf der B 248 in Lübbow, auf der B 216 bei Göhrde sowie auf der B 191 an der Dömitzer Brücke. Jeweils rund 200 Demonstrant:innen halten sich an den Blockadepunkten auf. Die Polizei spricht an allen Orten Auflösungsverfügungen aus, denen die Atomkraftgegner:innen nicht oder nur zögerlich nachkommen.
Am Castor-Verladebahnhof in Breese/Marsch versammeln sich rund 400 Gorleben-Gegner zu einer Abschlußkundgebung.
Die Sonnabenddemo habe gezeigt, daß der Widerstand gegen den "überflüssigen" Castor-Transport nicht erlahmt sei, so die BI. Ihre Forderung zur Töpfer-Weisung: Hannover soll sich verweigern; sachliche Gründe gebe es in Hülle und Fülle: Die BI: "Es wächst die Entschlossenheit, sich dem Castor in den Weg zu stellen. Im Ernstfall all rechnen wir mit weitaus massiveren Protesten, zumal dann bundesweit eine Mobilisierungswelle rollen wird. Wird der Castor nicht entladen, wird es im Wendland politisch unruhig bleiben."
Quelle: u.a. Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv II, LAIKA-Verlag; Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 7.11.1994
09.11.1994
9. November: Niedersachsen stimmt den Atommüll-Transport aus dem AKW Philippsburg in das Zwischenlager Gorleben zu.
November
10.11.1994
Am 10. November kommt es erneut zu Blockaden: Nächtliche Barrikaden aus Baumstämmen und brennenden Strohballen machen viele Zufahrtsstraßen im Landkreis stundenlang unpassierbar. Die ersten Barrikaden werden von der Polzei um 1.45 Uhr auf der Landesstraße von Schmarsau nach Schrampe festgestellt, wo vier Strohballen und Nagelbretter auf die Fahrbahn gelegt worden waren. Ab 4 Uhr häufen sich dann die Alarmmeldungen. Blockiert sind die Bundesstraßen bei Schmessau, Zernien, bei Bergen, Tobringen und Waddeweitz sowie Landes- und Kreisstraßen bei Gusborn, Lichtenberg, Liepe, Künsche und Groß Breese. Als sich eine Streifenwagenbesatzung gegen 4 Uhr einer brennenden Straßensperre bei Waddeweitz nähert, wird sie von den flüchtenden Täter:innen mit Steinen beworfen und mit Leuchtspurmunition beschossen. Zwischen Gorleben und Gedelitz wird in einer Kurve kurz vor dem Zwischenlager ein etwa zehn Millimeter starkes Stahlseil in 80 cm Hohe quer Ober die Fahrbahn gespannt. Eine Bombendrohung wird dem Kreiskrankenhaus in Dannenberg um 4.20 Uhr übermittelt. Der Sprengkörper sei zwischen Splietau und Dannenberg abgelegt, teilt der Anrufer mit. Tatsächlich finden die Beamten in der Nähe von Gusborn an einer Barrikade einen mit Drähten versehenen Feuerlöscher, der sich als Bombenattrappe entpuppt.
"Nichts geht mehr" heißt es auch auf der Bahnstrecke Lüneburg—Dannenberg. Bei Wendisch Evern mußte ein Zug stoppen, weil Kiefern auf den Gleisen Lagen. Die Bahnlinie Uelzen—Dannenberg wurde bei Molzen von brennenden Strohballen ebenfalls blockiert.
Quelle: u.a. Elbe-Jeetzel Zeitung vom 11.11.94
11.11.1994
Am 11. November beginnen tägliche Mahnwachen in den großen Ortschaften des Landkreises Lüchow-Dannenberg.
12.11.1994
Auf einer Pressekonferenz des Bundesinnenministeriums wird am 12. November bekannt, dass die Absicherung des Castor-Transports aus dem AKW Philippsburg in das Zwischenlager Gorleben 15 Millionen DM kosten wird. Über 5.000 BeamtInnen von Polizei und Bundesgrenzschutz sollen allein im Wendland im Einsatz sein, an der Bahnstrecke von Philippsburg bis an die Landkreisgrenze von Lüchow-Dannenberg noch einmal 15.000. Es handelt sich dabei um den größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik.
14.11.1994
Durch Sabotageaktionen auf Oberleitungen der Deutschen Bahn zwischen Celle und Garßen bricht am 14. November der Zugverkehr rund um Hannover stundenlang zusammen. Unbekannte Täter hatten "U-förmig gebogene Eisen" über die Oberleitungen geworfen, so daß sich die Stromabnehmer der Lokomotiven in den Hindernissen verfingen und die Leitung an mehreren Stellen herunterrissen. Infolge der Anschläge haben 78 Züge zum Teil stundenlange Verspätungen. Zu den Anschlägen bekennt sich ein anonymes "K.Ollektiv Gorleben". Aufkleber werden gefunden, die auf einen Zusammenhang mit dem angekündigten Castor-Transport hinweisen.
17.11.1994
Am 17. November blockieren Autoreifen und zwei gefüllten Benzinkanistern eine Brücke bei Dannenberg. Zwei Autofahrer rammen das Hindernis, werden aber nicht verletzt. In Hannover demonstrieren Eltern mit ihren Kindern vor der Staatskanzlei gegen den Transport.
19.11.1994
Trotz des angekündigten Versammlungsverbots demonstrieren am 19. November über 2.000 Castor-Gegner*innen auf den Bahnschienen mit einer "Streckenbegehung" zwischen Pudripp und Dannenberg sowie das Gleis nach Lüneburg. Die Räte der Stadt und Samtgemeinde Dannenberg sprechen sich erneut gegen den Atommülltransport aus.
20.11.1994
Am 20. November erläßt die Bezirksregierung Lüneburg ein sechs Zeitungsseiten füllendes Versammlungsverbot für den Zeitraum bis zum Castor-Transport. Am gleichen Tag bringen DemonstrantInnen einen Zug durch Ziehen der Notbremse mehrere Male zum Stehen und blockieren das Gleis mit Baumstämmen. Insgesamt muß die Polizei an diesem Wochenende 23 Barrikaden aus Strohballen, Baumstämmen, Wellblechen und Kilometersteinen von den Gleisen entfernen. Vor dem AKW Philippsburg demonstrieren am 20. November etwa 120 Menschen.
Die Durchführung des Castor-Transports wird ab dem 22. November erwartet. Ein großes Polizeiaufgebot steht für die erwarteten Auseinandersetzungen mit Demonstrant*innen bereit. SPD und Bündnis 90/Grüne appellieren an Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU), die Weisung ihres Vorgängers Klaus Töpfer zumindest auszusetzen. Andernfalls - so der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Müller - würden die Weichen "auf Konfrontationskurs mit der Umweltpolitik gestellt". Das Umweltministerium weist diese Forderung zurück.
Quelle: Frankfurter Rundschau, 22.11.94"Gravierendes Regelungsdefizit": Castortransport wird abgesagt
21.11.1994
Am "Tag der Entscheidung", am 21. November, treffen sich tausende Menschen auf dem Marktplatz in Lüchow. Am Abend wird die Weisung des Bundesumweltministers an die niedersächsische Landesregierung zur Genehmigung des Transports durch eine vorläufige Entscheidung des Verwaltungsgerichts Lüneburg aufgehoben. Das Gericht ordnet die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage an, mit der sich im April zwei BewohnerInnen aus dem Raum Gorleben gegen die Einlagerung des Atommülls gewandt hatten. Aus einer nächtlichen Demonstration in Gorleben wird ein Freudenfest, über 3.000 Menschen feiern vor dem Zwischenlager die ganze Nacht lang ihren "Sieg".
25.11.1994
Am 25. November reicht das Verwaltungsgericht Lüneburg die 25 Seiten umfassenden Begründung des Beschlusses, den Castortransport abzusagen, nach. Das Gericht beanstandet generell die 1988 erteilte Genehmigung für die Einlagerung von Castor-Behältern, weil sie Pannen, wie sie bei der Beladung des Behälters in Philippsburg aufgetreten seien, nicht berücksichtige. Dies sei ein "gravierendes Regelungsdefizit", da dadurch die Einlagerung eines Behälters in Gorleben möglich werde, der nicht den verbindlichen Handhabungs- und Prüfrichtlinien entsprechend beladen worden sei. Bundesumweltministerin Angela Merkel legt gegen die ergangene Entscheidung Beschwerde ein, mit der sich das Oberverwaltungsgericht Lüneburg befassen muß.
Quelle: FAZ, 23.11.1994
02.12.1994
In einem Artikel in der ZEIT wird der in Philippsburg geparkte Castorbehälter am 2. Dezember als "Deutschlands meistdiskutierter Abfalleimer" bezeichnet. Zudem wird die erste Rückführung von radioaktiven Abfälle aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague angekündigt: Die Fracht solle "in wenigen Wochen anrollen".
1995
23.01.1995
Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entscheidet am 23. Januar, daß der beabsichtigte Transport von abgebrannten Brennelementen aus dem AKW Philippsburg ins Zwischenlager Gorleben rechtens ist. Es hebt damit die Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Lüneburg auf, das am 21. November 1994 den Transport des "Castor"-Behälters mit den Brennelementen wegen Sicherheitsbedenken gestoppt hatte. Spontan versammeln sich vor dem Verladekran, auf dem Lüchower Marktplatz und vor dem Zwischenlager Gorleben mehrere 100 Menschen, um ihren Unmut gegen die Entscheidung kundzutun.
Quelle: Handelsblatt, 24.1.95