Uekötter_AtomareDemokratie2

„Die Zitrone, die man auspressen wollte“

Buch-Tipp: Frank Uekötter, Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022.

Aufmerksam geworden durch einen Bericht auf der homepage des Gorleben-Archivs über den dortigen zweitägigen Besuch des Umwelthistorikers Frank Uekötter im September 2021 las ich nun seine 2022 erschienene Geschichte der Atomenergie. Die Lektüre lohnt. Uekötter verfügt über reiches Faktenwissen, fundierte Quellen und eine „flotte“, erfrischende Schreibweise. Immer wieder beschreibt er nicht nur die Chronologie der Entstehung der Atomkraftwerke und Forschungszentren. Er wechselt die Perspektiven und berichtet so aus verschiedenen Blickwinkeln auf eine „Schlüsselkontroverse der bundesdeutschen Geschichte“. Lernprozesse stellt er zwischen den verschiedenen Akteuren und Ebenen fest und kristallisiert das Gespräch und den Austausch der Argumente als den Mittelpunkt dieses Demokratie-Weges. Auch das Kapitel über die Atomgeschichte der DDR ist gut und detailliert recherchiert. Wenn man Joachim Radkaus Standardwerk „Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft“ gelesen hat, meint man, die meisten Fakten schon zu kennen. Uekötter ergänzt und toppt Radkaus Recherche noch. Als Leser fragt man sich immer wieder, wo man selbst zu bestimmten Zeiten war. Erinnere ich mich, was ich 1986 machte als Tschernobyl explodierte oder 1987/88 als mit einem Jahr Vertuschungs-Verspätung der Beinahe-GAU in Biblis öffentlich wurde ? Wie groß war die eigene Enttäuschung im Jahr 2000 als der (erste) Ausstieg noch lange 32 Jahre Wartezeit bedeuten sollte ? Wer weiß von der Beinahe-Kernschmelze 1975 in Lubmin und der Windscale-/Sellefield-Katastrophe 1957 ? Wo war man als man die Nachricht von Fukushima 2011 hörte ? Als Würgassen-Aktiver hätte ich mir auch die Erwähnung des „Unfalls“ in Würgassen am 12.4.1972 gewünscht, dem anschließend Genscher im Bundestag Rede und Antwort stehen mußte. So nennt er lediglich das wenige Wochen vorher gesprochene, wegweisende Würgassen-Urteil vom 16.3.72, das den Schutz vor den Gefahren der Atomkraft Vorrang vor der Nutzung gab. Beeindruckend finde ich Uekötters Ausblick auf die Entwicklungen in Frankreich und England. Zu diesem Thema wünscht man sich eine eigene historische Publikation. Seine Formulierung „Auch nach dem Atomausstieg sind Bundesbürger von den Folgen eines nuklearen GAU bedroht.“ öffnet die Augen. „Es ist gut möglich, dass Kernkraft in Europa zu einer weitgehend vergessenen Energiequelle werden wird, bis es zum Knall kommt.“ (S.288). Die Hybris der Atomkraft-Nutzung wird an den Jahrmillionen der Lagerung des Mülls einer einzigen Generation deutlich. Noch viele Generationen von Umwelthistoriker(inne)n werden diese Zeit begleiten. Seit 1. Juni 2023 leitet Frank Uekötter den Lehrstuhl für Technik- und Umweltgeschichte an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Auch seine weiteren Publikationen lohnen sehr.

„Wer sich mit der Geschichte der Atomenergie beschäftigt, muss irgendwann auch mal ins Gorleben-Archiv“, sagte Uekötter bei seinem Besuch 2021. „Leider war es aufgrund der Pandemie nur ein Kurzbesuch, aber es hat sich gelohnt – auch deshalb, weil man beim Blick auf die Papiermassen eingeschüchtert wird. Da merkt man, wie heikel jeder Versuch ist, einen jahrzehntelangen Konflikt zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen.“
(Homepage des Gorleben-Archivs vom 15.9.21)

von Arno Schelle, Fredelsloh

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