Archäologische Erforschung der Freien Republik Wendland

Im Rahmen seines zweijährigen Promotionsstipendiums der Graduiertenschule Geisteswissenschaften der Universität Hamburg wird der Doktorand Attila Dézsi zwischen Oktober 2016 und Anfang 2018 die Hinterlassenschaften der Freien Republik Wendland archäologisch untersuchen. In Zusammenarbeit mit dem Gorleben Archiv soll in dem Projekt rekonstruiert werden, wie das Camp aufgebaut war und vor allem, wie der Alltag dort aussah.

Im Mai 1980 lebten mehr als 800 Personen vier Wochen lang nahe Gorleben (Niedersachsen) im Protestcamp „Freien Republik Wendland“ und verhinderten so Bohrungen für das geplante Atommüll-Endlager im nahegelegenen Salzstock. Die Räumung des Lagers gegen den passiven Widerstand der Bewohnerinnen und Bewohner war der größte Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte.

„Trotz der groben oberflächlichen Räumung des Camps haben sich vermutlich tiefere Baueingriffe von größeren Hütten und Türmen sowie aufgelassene Kleinfunde erhalten“, so Dézsi. „Ich werde erstmalig im deutschsprachigen Raum eine Erforschung der Alltagskultur des späten 20. Jahrhunderts durchführen“.

„Es wird interessant zu beleuchten, wie sich der Wunsch der Aktiven, nicht Geschichte zu werden, mit dem gleichzeitigen Bestreben, didaktische Wege für eine Erinnerungskultur zu finden, vereinbaren lässt und welche Rolle die Archäologie dabei spielen kann“, so Dézsi.

Eine besonderer Aspekt des Projektes ist, dass es sich beim Forschungsgegenstand nicht um eine abgeschlossene Vergangenheit handelt: Ein endgültiger Ausschluss der Salzlagerstätte nahe Gorleben als Endlager für Atommüll ist seitens der Politik nicht vollzogen.

Methodik

Methodisch ist eine Kombination aus verschiedenen Verfahren vorgesehen:

Phase 1 (Oktober 2016 bis Frühjahr 2017):
Fotografien und Schriftquellen des Ereignisses werden analysiert. Zudem sollen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Befragungen dazu angeleitet werden, aus ihren Erinnerungen eine Skizze des Camps zu zeichnen und vom Alltagsleben auf dem Camp zu erzählen. Hierdurch soll eine Rekonstruktion des Aufbaues und der Ausmaße des Camps ermöglicht werden.

Phase 2 (Frühjahr 2017):
Auf dem Gelände der „Freien Republik Wendland“ wird aus den Ergebnissen der 1. Phase sowie mit modernen geophysikalischen Prospektionstechniken eine Verdachtsfläche ermittelt, die für Ausgrabungen zur Rekonstruktion des Camp-Alltages besonders relevant sein könnte.

Phase 3 (Sommer 2017):
Grabungen, Pressetag mit öffentlicher Grabung

Phase 4 (Herbst 2017, 2018):
Fundauswertung und Interpretation

Rückblick

November 2018: Nachdem die großen Arbeitsschritte der Feldarbeit im Gorlebener Wald vorüber sind, bin ich derzeit in der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit vertieft. Derzeit werte ich verschiedene Quellen aus, wie historische Fotografien von der Platzbesetzung, Interviews mit DorfbewohnerInnen und Befunden der Ausgrabung und stelle sie einander gegenüber – dabei verschriftliche ich erste Ergebnisse.

Neben der Verschriftlichung suche ich selbstverständlich einen Austausch zu anderen FachkollegInnen, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben, woran andere Projekte in der Archäologie der Zeitgeschichte derzeit so arbeiten. Daher war ich letztes Wochenende auf einer Konferenz in Aarhus von der CHAT (der Contemporary and Historical Archaeology in Theory). Diese ist vielleicht eine der spannendsten internationalen Tagungen für die Archäologie des 20. und 21. Jahrhunderts. Dort ging es u.a. einmal mehr um Politik und inwiefern archäologische Forschung unterdrückte Gruppen und Geschichten unserer Gesellschaften vergegenwärtigen können. Es ging es auch um die gemeinsame Kooperation und Interpretation mit ZeitzeugInnen und Betroffenen, wenn ArchäologInnen ihr materielles Erbe untersuchen und dieses Gegenstand denkmalpflegerischer Anliegen wird – so sprachen wir unter anderem in Workshops und Vorträgen über die Zusammenarbeit mit Obdachlosen, Flüchtende, um post-koloniale Archäologie im 21. Jahrhundert und um Kinder- und Frauenmuseen in England und Dänemark. Auf der Tagung haben wir auch versucht zu überlegen, wie die Kritik an den Atomanlagen an folgende Generationen vermittelt werden kann. Hier das Programm zur Chat: http://conferences.au.dk/chatact18/

Vor einem Jahr hat das archäologische Institut der Uni Hamburg einen Sammelband zusammengestellt, indem sich alle aktuellen Forschungsprojekte vorstellen dürfen. Die Zielgruppe war nicht nur das Fachpublikum, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Darin finden sich von der frühesten Steinzeit bis zum widerständigen Wendland alle Menschheitsepochen wieder. Es ist frisch erschienen und vollständig kostenlos im Open Access verfügbar (pdf).

26. April 2018: Eine kurze Zwischenmeldung nach der Ausgrabung
Vom 7.3. bis zum 21.3.2018 fand die dritte und vorerst letzte archäologische Untersuchung des ehemaligen Geländes der Freien Republik Wendland statt.

Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 21.03.2018:

Vier Wochen Protest-Geschichte
Verbeulte Töpfe, alte Getränkedosen, zerstückeltes Baumaterial – der Archäologe Attila Dézsi hat die Reste der „Republik Freies Wendland“ ausgegraben und zutage gefördert, was 1980 die Republik im Kampf gegen das geplante Atommüll-Endlager bewegte. – zum Artikel

Attila Dézsi gräbt wieder:

Vom 7. – 21. März 2018 wird der Archäologe wieder vor Ort sein. Zwei Wochen lang wird er mit einem Team der Uni Hamburg die zweite Phase seiner Tiefengrabung auf dem Gelände des ehemaligen Hüttendorfes 1004 vornehmen. Unterstützung ist erwünscht. Ob stundenweise Hilfe, etwas Kulinarisches oder eine Geldspende.

Februar 2018: Auf wikipedia gibt es nun eine Seite über die Grabungen

8. November 2017:
Nach der ersten Grabungsphase werden nun erste Ergebnisse vorgestellt. Interessierte Medienvertreterinnen und -vertreter sind herzlich eingeladen zum

Pressegespräch anlässlich des Projektes „Freie Republik Wendland“,
am Donnerstag, dem 16. November 2017, um 13 Uhr,
im Gasthof „Trebeler Bauernstuben“, Am Markt 5, 29494 Trebel.
Um Anmeldung wird gebeten.

weitere Informationen

Attila Dézsi am 22. Oktober zum Abschluss der Grabungen:

„Archäologie erforscht menschliche Gesellschaften durch die in Befunden überlieferte materielle Kultur – also jene Dinge, die wir täglich benutzen. Sie kann dabei weitere Quellen hinzuziehen: Schriftquellen, Fotographien und mündliche Überlieferung. Es sollen Geschichten, Ereignisse und soziale Strukturen rekonstruiert werden.

Eine wichtige archäologische Herangehensweise ist die Ausgrabung, welche immer auch eine Zerstörung von Bodenbefunden ist, die uns über den zeitlichen Ablauf und den Kontext darin enthaltene Artefakte Auskunft geben. Daher muss jede Ausgrabung genehmigt werden und die Dokumentation muss die gemachten Beobachtungen festhalten und den zerstörten Befund ersetzen.

Mithilfe von Studierenden der Universität Hamburg und tageweise ehemaligen DorfbewohnerInnen konnte im Oktober die erste Grabungskampagne durchgeführt werden. Nun folgt der nächste wichtige Schritt: die geborgenen Artefakte müssen gereinigt, inventarisiert und die Dokumentation verschriftlicht werden. Die Auswertung und Interpretation dokumentierten Befunde und Objekte stellen einen zentralen Aspekt der Dissertation dar.

Ziel der Ausgrabung war es zu klären, wie sich die Ereignisse der Platzbesetzung und der Räumung durch Bodenbefunde und Artefakte rekonstruieren lassen. Dabei sollen bisherige Überlieferungen zur Platzbesetzung durch Schrift, Bild und Erinnerung miteinander vergleichen und gegenübergestellt werden. Durch die Untersuchung von möglichen Gebäudestandorten kann ein Einblick in den Aufbau und Funktion verschiedener Hütten gewonnen werden, um mit archäologischen Methoden Einblicke in die Sozialstrukturen und das Alltagsleben des Camps zu ermöglichen.

Aber Archäologie forscht nicht nur für sich allein. Sie ist immer im gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart verortet und zu verstehen. Daher ist es wichtig zu betonen, dass diese Geschichte nicht nur der Archäologie gehört – sondern eben auch den Menschen, die die Geschichte erlebt haben. Daher war es umso erfreulicher, dass sich an einigen Tagen der Ausgrabung ZeitzeugInnen und AnwohnerInnen Zeit genommen haben, um ums in ihrer Freizeit tatkräftig auf der Ausgrabung zu unterstützen und an der Erforschung Ihrer eigenen Geschichte mitzuwirken. Auch die vielen Besuche, Hilfe bei der Logistik, sowie Kuchen- und Essenspenden konnten den Grabungsteam nicht deutlicher vermitteln, dass sie einen Teil der Geschichte auszugraben, der heute noch immer wichtig ist, bewegt und zum Nachdenken anregt.“

Presseartikel / Medienspiegel

18.11.2017, Tagesspiegel:
37 Jahre später Suche nach Überresten in Gorleben
Auf Knien rutschen die Archäologen mit ihren Pinselchen durch den Wald von Gorleben. Sie suchen nach Überresten der „Republik Freies Wendland“ – und finden mehr als erwartet. – zum Artikel

16.11.2017, dpa:
Auf Spurensuche in der „Republik Freies Wendland“
Ein Wissenschaftler aus Hamburg geht auf archäologische Spurensuche nach Resten der „Republik Freies Wendland“. – zum Artikel

SPIEGEL-online, 21.09.2017: Wendland – Archäologen erforschen Achtzigerjahre
Schluss mit Steinzeit: Archäologen interessieren sich neuerdings auch für Zeitgeschichte. Ein Forscher gräbt ein Protestcamp nahe Gorleben aus – und berichtet Überraschendes aus dem Leben der Atomkraftgegner. – mehr

NDR, 18.01.2017: Archäologe gräbt „Freie Republik Wendland“ aus

Attila Dézsi will Struktur und Alltagsleben des ehemaligen Protestcamps rekonstruieren. Zwei Jahre lang forscht er in Archiven sowie auf dem Gelände und spricht mit Zeitzeugen.

„Da drüben war das Frauenhaus – da war für uns der Zutritt streng verboten“, erzählt Wolfgang Ehmke und zeigt über die große Waldlichtung hinweg in Richtung einer Baumreihe. „Dahinter stand glaub‘ ich die Solaranlage“, meint Bernd Westphal. Eifrig macht sich Attila Dézsi Notizen. Der Archäologe hat viele Fragen an die beiden Männer, mit denen er an diesem kalten Wintertag durch den Wald bei Gorleben stapft. Denn sie haben an dem Ort gelebt, den der Wissenschaftler wieder zum Leben erwecken will: Die „Freie Republik Wendland“. – zum Artikel auf ndr.deVideo: aus Hallo Niedersachsen – 18.01.2017 19:30 Uhr

taz, 16.10.2016: Archäologie in Niedersachsen: Was dort begraben liegt

Die Republik Freies Wendland existierte 1980 für 33 Tage. Ein Forscher will das Anti-Atom-Protestcamp bei Gorleben jetzt rekonstruieren.

(…) „Wie ich an die Zeitzeugen heran komme, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht so genau“, sagt Dézsi und lacht verlegen. Wenn das Gorleben-Archiv nicht weiterhelfen kann, will er einen Aufruf starten. Die Interviewpartner sollen vom Alltagsleben der Besetzer erzählen und aus ihrer Erinnerung Skizzen des Camps zeichnen. Durch diese Informationen erhofft sich der Doktorand Rückschlüsse über den Aufbau und die Ausmaße des Dorfes auf der Bohrstelle 1.004. „Es gab zwar am Eingang einen Plan, auf dem die Bewohner eintragen konnten, wo sie bauen wollen, aber der war natürlich nicht sehr genau.“ (…) – zum Artikel auf taz.de

27.10.2016: Promotionsprojekt startet: Archäologische Erforschung der Freien Republik Wendland

Erste Presseerklärung zum Promotionsprojekt