Gorleben-Chronik
2008
Gorleben Chronik 2008
Nach der Veröffentlichung der Kinderkrebsstudie (KIKK) im Dezember 2007 erreicht die Diskussion um erhöhte Krebsraten in der Nähe von Atomanlagen Anfang Januar auch Lüchow-Dannenberg: Rudi Sproessel, beratendes Mitglied des Kreisatomausschusses, spricht von „1100 bis 1200 Krebspatienten unter 52000 Einwohnern“. Doch solange es kein Krebsregister gebe, könne keine belastbare Aussage gemacht werden: Gibt es in Lüchow-Dannenberg mehr Krebsfälle als woanders? Die Zwischenlagerstandorte waren nicht Bestandteil der KIKK-Studie, bei der die Regionen um die 16 Atomkraftwerke betrachtet wurden. In einem ersten Schritt empfiehlt der Kreisatomausschuss, dass die Landesregierung oder das Bundesumweltministerium eine vergleichende epidemiologische Studie zur Krebshäufigkeit im Umkreis des atomaren Zwischenlagers Gorleben anfertigen soll.
Im Jahresbericht 2005 des Bundesamt für Strahlenschutz heißt es zum Bergwerk Gorleben: „der Erkundungsbereich 1 befinde sich nordöstlich der Schächte 1 und 2“. Stimmen die Genehmigungs- und Betriebspläne mit der tatsächlichen geografischen Lage des Erkundungsbergwerkes für ein atomares Endlager in Gorleben überein? fragen deshalb Mitgleider des Kreis-Atomausschusses. Der Vorsitzende Martin Donat (GLW) und das beratende Mitglied Rudi Sproessel wollen dem bei einem Besuch des BfS nachgehen, heißt es Mitte Januar. Das Bundesamt räumt daraufhin ein, dass es sich „bedauerlicherweise“ um ein „redaktionelles Versehen“ handle. Die korrekte Lage des Erkundungsbereichs 1 befinde sich nordwestlich der beiden Schächte.
Soll Gorleben Standort für ein atomares Endlager werden? Diese Frage brennt rund 270 Zuhörern beim „Wahlforum“ am 22. Januar im Dahlenburger Schützenhaus unter den Nägeln. Miriam Staudte (Grüne) und Franz-Josef Kamp (SPD) halten den Standort für „ungeeignet“. Boris Freiherr von dem Bussche (FDP) fordert, zwei mögliche Endlagerstandorte miteinander zu vergleichen. Er habe das Vertrauen in die Wissenschaftler verloren, die vor Ort untersuchen. Kurt Herzog (Die Linke) spricht sowohl der Bundes- als auch der Landesregierung beim Thema Gorleben die Lernfähigkeit ab, weil beide unbeirrt am Atomstandort Gorleben festhielten. Karl Behrens (Freie Wähler) plädiert dafür, einen zweiten Standort als ernsthafte Alternative zu untersuchen. Karin Bertholdes-Sandrock (CDU) fordert einen „verantwortungsvollen Umgang“ mit dem Atommüll. Der Salzstock in Gorleben müsse zu Ende untersucht werden, die Suche an einem anderen Ort wäre nur „eine Ausflucht“.
In der Auseinandersetzung um angeblich vernichtete Daten aus dem Bergwerk Gorleben beschwert sich die BI Umweltschutz am 23. Januar, dass sie entgegen des Versprechens Sigmar Gabriels immer noch keine Antwort vom Bundesamt für Strahlenschutz erhalten habe. Die von der BI geforderte detaillierte Inhalts-übersicht „sei in Arbeit“ und werde „sehr bald zugestellt“, heißt es vom BfS.
Kulturelle Landpartie: Am Pfingstsonntag (11. Mai) lädt Salinas zu Informationen, Spaziergängen und Fahrradtouren rund um den Standort Gorleben ein. Lilo Wollny, Gorleben-Widerständlerin der ersten Stunde, berichtet über ihre Jahrzehnte langen Erfahrungen mit den Atompolitikern und Betreibern: Landbesitzer wurden genötigt, kritische Wissenschaftler diffamiert und Kommunalpolitiker mit Millionen geködert. Gutachten verschwanden auf Nimmerwiedersehen, Genehmigungen wurden aus dem Hut gezaubert, notfalls die Gesetze einfach umgeschrieben.
Im Juni wird bekannt, dass in dem als Forschungsanlage für schwach- und mittelradioaktiven Müll deklarierten Endlager Asse II täglich 12 Kubikmeter Wasser eindringt. In dem maroden Lager haben sich große Mengen radioaktiv verseuchte Lauge angesammelt, die seit Jahren ohne Genehmigung in benachbarte Hohlräume gepumpt werden. Außerdem liegen in der Asse – verteilt auf 126.000 Atommüllfässer – mindestens 29 Kilo hochgiftiges Plutonium: drei Mal mehr, als der langjährige Betreiber, das Helmholtz-Zentrum München, ursprünglich angegeben hatte. Niemand weiß, was damit geschehen soll. Nur scheibchenweise kommt das ganze Ausmaß des Desasters ans Licht. Und es sind dieselben politischen Entscheidungsträger und Gutachter, die sowohl für den Asse-Skandal als auch für den Standort Gorleben verantwortlich sind.
Oktober – Der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, stellt „aus meiner Verantwortung für die grundlagenorientierte Endlagerforschung“ fest, „daß die Endlagerfrage in Deutschland technisch gelöst ist“, dementsprechend „wäre die Inbetriebnahme des Endlagers im Salzstock Gorleben etwa im Jahr 2025 möglich“. (BMWi 2008) und legt mit bestellten Gutachten der GRS und des Öko-Instituts noch einmal nach (GRS 2008)
Nicht zuletzt auf Drängen des Gorlebener Widerstands veranstaltet das Bundesumweltministerium vom 30. Oktober bis 01. November in Berlin eine große Endlager-Konferenz mit Beteiligung von Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland. Die große Mehrheit der dort versammelten über 350 Experten*innen fordert bei der Suche nach einem Endlagerstandort einen Neuanfang nach internationalem Standard. Das Auswahlverfahren müsse ergebnisoffen sein und auf der Grundlage klarer Sicherheitskriterien erfolgen. Dabei müssten mehrere Standorte miteinander verglichen und die Öffentlichkeit beteiligt werden – so wie es der AkEnd bereits 2002 vorgeschlagen hatte.
Castor-Proteste
7.- 10. November – Schienenblockaden sorgen für die längste Transportdauer von 79 Stunden der 11 französischen Behälter mit hochradioaktiven Abfällen von Frankreich nach Gorleben. Die Behälter erhöhen bei ihrer Ankunft im Bahnhof Dannenberg nach Messungen von Greenpeace die Strahlenbelastung durch Neutronenstrahlen auf das 320-fache. Das Gewerbeaufsichtsamt leiht sich die Messgeräte vom Betreiber des Zwischenlagers, misst willkürlich drei Transportbehälter, kann dann aber nicht mehr sagen, welche.
Am 8. November demonstrieren über 16.000 Menschen in Gorleben gegen die Atomkraft. Acht in 2 Betonpyramiden angekettete Mitglieder der bäuerlichen Notgemeinschaft verzögern den Straßentransport in das Zwischenlager Gorleben noch einmal um 24 Stunden.
1970 – 1980 – 1990 – 2000 – 2007 – zur Übersicht – 2009 – 2010
Die ganze Geschichte:
…und davor – Die Anfänge bis 1972
Die Anfänge: Erste Überlegungen, Atommüll in Salz zu lagern – statt ihn in der Tiefsee zu versenken. Gasexplosion im Salzstock Gorleben-Rambow.

1973 – Zwei AKW für das Wendland
1973 werden die Pläne bekannt, bei Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk zu bauen. In der Debatte um einen Standort für ein Atommüll-Endlager bzw. die Errichtung eines Entsorgungszentrums spielt Gorleben 1973 offiziell keine Rolle.
1974 – Erste Standortsuche ohne Gorleben
Die Standortsuche für ein Atommülllager beginnt. Das Credo: So lange die Anlage genug Platz hatte und niemanden störte, war alles gut.

1975 – Großer Waldbrand bei Trebel
Im August 1975 bricht bei Trebel ein großer Waldbrand aus. Die Bundesregierung geht bei der Standortsuche für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) davon aus, dass mehrere Salzstöcke parallel untersucht werden müssten. Gorleben gehört nicht dazu.

1976 – Der Standort „Gorleben“ taucht auf
(…) In einer zweiten Version der TÜV-Studie wurde handschriftlich der Standort Gorleben ergänzt und als am besten geeignet befunden. (…)

1977 – Das Jahr der Standortbenennung
Nach der Benennung Gorlebens als Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ finden erste Großdemonstrationen statt.

1978 – Ein Koffer voll Geld
Innerhalb von 5 Tagen sammeln Gorleben-Gegner*innen 800.000 DM, um der DWK beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen.

1979 – Treck nach Hannover – WAA „nicht durchsetzbar“
Im März 1979 findet der legendäre „Treck nach Hannover“ statt. Nach einer Großdemonstration in der Landeshauptstadt verkündet der Ministerpräsident das Aus für die WAA-Pläne in Gorleben.

1980 – „Republik Freies Wendland“
Platzbesetzung der Bohrstelle Gorleben 1004 und Gründung der „Republik Freies Wendland“. Die Räumung nach vier Wochen wird zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD.

1981 – Die Zweifel in Gorleben werden größer, nicht kleiner
Gorleben-Hearing in Lüchow zum Bau des Zwischenlagers und massiver Protest gegen das AKW Brokdorf. Nach Bohrungen werden die Zweifel an der Eignung des Salzstock Gorleben für ein Endlager „größer, nicht kleiner“. Doch Gegner*innen des Projekts seien „Schreihälse, die bald der Geschichte angehören“, meinen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl.

1982 – „Tanz auf dem Vulkan“
Der Zwischenlagerbau beginnt, Tanz auf dem Vulkan und plötzlich ist das Wendland mit Dragahn wieder als ein WAA-Standort im Gespräch.

1983 – Dragahn: Eine WAA wird verhindert
Proteste gegen die Pläne, in Dragahn eine WAA zu errichten. „Gorleben statt Kreta“ und Demos im Grenzgebiet zwischen der DDR und BRD. Das Bundeskabinett unter Helmut Kohl stimmt der „untertägigen Erkundung“ des Salzstocks Gorleben zu.

1984 – Menschenkette und Tag X
„Das Vertrauen hat sehr gelitten“: Menschenkette und Wendland-Blockade gegen die WAA-Pläne. Unter erheblichem Protest erreicht ein erster Atommülltransport das Fasslager Gorleben.
1985 – „Spudok“-Affäre und Kreuzweg
Der erste Kreuzweg führt vom AKW Krümmel nach Gorleben. Nach Anschlägen auf die Bahn werden die Daten von tausenden Gorleben-Gegner*innen von der Polizei gespeichert – und damit eine ganze Szene pauschal kriminalisiert.
1986 – Tschernobyl
Heftige Auseinandersetzungen um den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf. Nach dem GAU von Tschernobyl protestieren zehntausende Menschen gegen die Atomenergie.
1987 – 10 Jahre Gorleben
„Transnuklearskandal“ betrifft auch Atommüll im Zwischenlager Gorleben. Schwerer Unfall in Schacht 1.
1988 – „Wir stellen uns quer!“
Kreuzweg der Schöpfung führt von Wackersdorf nach Gorleben, Schmiergeldskandal, „Wir stellen uns quer“ – Proteste gegen den ersten Probecastor ins Zwischenlager.
1989 – Castor-Alarm im Wendland
Das Aus für die WAA Wackersdorf, Castor-Alarm: erster Atommülltransport nach Gorleben wird wenige Stunden vor Abfahrt gerichtlich gestoppt.
1990 – PKA-Bauplatz- und Turmbesetzung
„Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann…“, als auf dem Bauplatz der PKA Hütten errichtet werden. Aktivist*innen besetzen im Sommer den Förderturm in Gorleben, zum Jahresende Baustopp und SPD-Versprechen.
1991 – Mol-Skandal & Baustopp
Anlieferung von Mol-Container, PKA-Bauplatzbesetzung, erneuter „Castor-Alarm“ und nächster Baustopp im Erkundungsbergwerk.
1992 – Viel Geld für den Landkreis
Resolution gegen und eine Mehrzweckhalle für Gorleben, Erweiterung des Zwischenlagers und viel Geld für den Landkreis.
1993 – CASTOR-HALLE-LUJA und Endlagerhearing
Sitzblockaden gegen Atommüll-Lieferungen, „Wege aus der Gorleben-Salzstock-Sackgasse“, Energiekonsens-Gespräche und hohes Bussgeld gegen Turmbesetzer*innen.
1994 – Pleiten, Pech und Pannen: „Castornix“
Widerstandscamp „Castornix“ und erhebliche Proteste gegen ersten Castortransport, der wegen technischer Mängel dann abgesagt wird. Weiterbau der PKA per Weisung.

1995 – Tag X, Backpulver & Stay rude-stay rebel
Anschläge auf Bahn & Kran, die Aktion „ausrangiert“ will den ersten Castor empfangen, Bundesumweltministerin Merkel macht den absurden Backpulver-Vergleich & der Baustopp im Bergwerk wird aufgehoben.
1996 – „Wir stellen uns quer!“
10 Jahre nach Tschernobyl, „Wir stellen uns quer!“ gegen den zweiten Castor nach Gorleben.

1997 – Stunkparade gegen Sixpack
Gewaltsame Räumung für den dritten Castor, Griefahn knickt ein & mehr Geld von der BLG.
1998 – Castor-Skandal und TagX4 in Ahaus
Einwendungen gegen die PKA, Castortransport nach Ahaus, Transportestopp nach verstrahlten Behältern, Einstieg in den Atomausstieg und Moratorium im Salzstock.
1999 – „Gerhard, wir kommen“ & X-tausendmal quer
„Flickschusterei“ um Atomausstieg & AkEnd, Stunkparade nach Berlin und die Ankündigung, dass sich beim nächsten Castor X-tausend Menschen querstellen werden.

2000 – Atomkonsens & Moratorium
Defekte Brücke und unsichere Behälter verhindern Castorlieferung, Atomkonsens „alles Lüge“, denn er sichert den Weiterbetrieb der AKW und Moratorium im Salzstock.

2001 – X-tausendmal quer & Widersetzen
Zwei Atommülltransporte rollen nach Gorleben, einer im März, ein zweiter im November. X-tausend Menschen stellen sich quer und WiderSetzen sich. Der Betonblock von Süschendorf zwingt den Castor zum Rückwärtsgang. Der Widerstand bekommt ein Archiv, die Bundestagsabgeordneten ein Denkmal, die „Gewissensruhe“.