Gorleben-Chronik
1978 - Ein Koffer voll Geld
Innerhalb von 5 Tagen sammeln Gorleben-Gegner*innen 800.000 DM, um der DWK beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen.
Zwischen Januar und April versucht die "Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen mbH" (DWK) mit umstrittenen Methoden mehr als zwölf Quadratkilometer Land über dem Salzstock Gorleben zu kaufen. Betroffene Bürger*innen und Atomkraftgegner*innen werden von einem privaten Stader Wach- und Kontrolldienst bespitzelt und eingeschüchtert. Selbst der CDU-Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag rügt die "frühkapitalistischen Methoden". Die DWK stellt schließlich ein Ultimatum für die Grundstücksverkäufe bis zum 2. Mai, später bis Mitte Juli und droht mit Enteignung. Es kommt immer wieder zu Protesten.
"Heiße Kartoffeln" heisst ein Anti-Atom-Theaterstück in 15 Bildern, das in der Alten Burg in Gorleben am 10. April uraufgeführt wird. Es folgten weitere Vorstellungen im Wendland und sogar eine Tournee mit 120 Aufführungen durch die Bundesrepublik und die Schweiz. Nur das Kurhaus in Hitzacker blieb dem ersten Stück der "Theaterwehr Brandheide" verschlossen. Der neugewählte Oberkreisdirektor Klaus Poggendorf hielt es für "unangemessen", in einem Gebäude der öffentlichen Hand ein Stück gegen eben diese öffentliche Hand aufführen zu lassen.
In dem Stück ging es einen Bauern namens Pankow, der für guten Profit Land an die Atomindustrie verkaufen kann, es aber schließlich trotz massiver Bedrohung wie Bestechung, Fotoaufnahmen und Rauschgiftvorwürfen nicht tut. Die Problematik um Gorleben wurde zum Anlass genommen, um zu zeigen, wie großmächtige Planungsinteressen mit den Bedürfnissen des einzelnen Bürgers umgehen. Ein Stück über Wiederaufarbeitung, über eine Atommülldeponie in einem ländlichen Landkreis, in dem "alle Personen frei erfunden sind und doch in unserer Wirklichkeit leben".
(Birgit Huneke, Gorleben Rundschau Januar/Februar 2016)
Im Juni rufen die BI Lüchow-Dannenberg, der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e.V. (BBU) und Gorleben-Freundschaftskreise zu dezentralen, gewaltfreien Aktion "mit Verhinderungscharakter" auf. Am 30. Juni findet ein erster bundesweiter Aktionstag zu Gorleben mit zahlreichen Aktionen im ganzen Bundesgebiet statt.
Am 10. Juli gibt u.a. Andreas Graf von Bernstorff, dem mit rund 50% die größte Fläche über dem Salzstock Gorleben gehört, während einer Pressekonferenz in Gartow bekannt, dass er das Angebot der Atomwirtschaft von über 26 Millionen Mark ablehnen wird. Stattdessen wird ein Rechtshilfefonds für die zu erwartenden Prozesse gegründet.
Zwischen dem 10. und 15. Juli, innerhalb von 5 Tagen, sammelt die BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI) mit einer einmaligen Solidaritätsaktion 800.000 DM, um der Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen mbH (DWK) beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen. Bei der geplanten Übergabe des „Koffer voll Geld“ stellt sich allerdings heraus, dass der betroffene Eigentümer, Landwirt Tiedemann, den Kaufvertrag mit der DWK bereits unterzeichnet hat. Landwirt Wiese, der das Land ebenfalls erwerben wollte und dabei von der BI unterstützt wird, erhebt Einspruch beim Grundstücksverkehrsausschuß, der den Kauf genehmigen muß.
Vom 30. Juli bis zum 1. September findet am geplanten Bauplatz in Gartow das zweite Internationale Sommercamp von Atomkraftgegner*innen statt. Organisator*innen sind der Bund Deutscher PfadfinderInnen, Naturfreunde Hessen und Freundschaftskreise der BI Lüchow-Dannenberg.
Entgegen seiner gesamten bisherigen Spruchpraxis "Bauernland in Bauernhand" genehmigt der Grundstücksverkehrsausschuß im August den Grundstücksverkauf des Landwirts Tiedemanns an die DWK wegen "übergeordneter Interessen".
Im September werden erste Probebohrungen für Anfang 1979 angekündigt.
Am 27. bis 29. Oktober finden die zweiten bundesweiten Aktionstage "Gorleben soll leben! Wir werden uns regen!" statt.
Noch bevor "Gorlebengelder" bezahlt werden, hat der Landkreis eine Wunschliste erstellt mit Forderungen in Höhe von 75 Mio. DM an Bund und Land. "Internationale militante Gruppen" sieht die Kreisverwaltung auf Gorleben vorrücken. Waldgebiete würden möglicherweise von den Gegnern der Anlagen in Brand gesteckt. Deshalb müssten die Feuerwehren ausgebaut werden. Wegen der Demonstranten könnten Handel, Handwerk und Gewerbe unterbrochen werden, wofür ebenfalls Entschädigung benötigt würde. Eine Vielzahl von Verletzten bei "gewalttätigen und aufrührerischen Demonstrationen" seien zu erwarten, deshalb müsse das Kreiskrankenhaus ausgebaut werden. Und auch die Kreisverwaltung sollte profitieren: weil mit den Bauarbeitern des Nuklearen Entsorgungszentrums (NEZ) sich "Geschlechtskrankheiten, Prostitution, Alkohol- und Rauschgiftsucht" ausbreiteten würden, brauche man Geld für das Gesundheitsamt, schrieb der Landkreis in sein Verhandlungspapier.
Die ganze Geschichte:
…und davor – Die Anfänge bis 1972
Die Anfänge: Erste Überlegungen, Atommüll in Salz zu lagern – statt ihn in der Tiefsee zu versenken. Gasexplosion im Salzstock Gorleben-Rambow.

1973 – Zwei AKW für das Wendland
1973 werden die Pläne bekannt, bei Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk zu bauen. In der Debatte um einen Standort für ein Atommüll-Endlager bzw. die Errichtung eines Entsorgungszentrums spielt Gorleben 1973 offiziell keine Rolle.

1974 – Erste bundesweite Endlagersuche
Die Standortsuche für ein Atommülllager beginnt. Das Credo: So lange die Anlage genug Platz hatte und niemanden störte, war alles gut. Der Standort Gorleben hatte damit nichts zu tun.

1975 – Großer Waldbrand bei Trebel
Im August 1975 bricht bei Trebel ein großer Waldbrand aus. Die Bundesregierung geht bei der Standortsuche für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) davon aus, dass mehrere Salzstöcke parallel untersucht werden müssten. Gorleben gehört nicht dazu.

1976 – Der Standort „Gorleben“ taucht auf
(…) In einer zweiten Version der TÜV-Studie wurde handschriftlich der Standort Gorleben ergänzt und als am besten geeignet befunden. (…)

1977 – Das Jahr der Standortbenennung
Die Bedenken sind stark, doch Gorleben wird trotzdem zum Standort für den Bau eines gigantischen „Nuklearen Entsorgungszentrums“ benannt. Daraufhin finden erste Großdemonstrationen statt.

1978 – Ein Koffer voll Geld
Innerhalb von 5 Tagen sammeln Gorleben-Gegner*innen 800.000 DM, um der DWK beim Kauf weiterer Grundstücke über dem Salzstock Gorleben zuvor zukommen.

1979 – Treck nach Hannover – WAA „nicht durchsetzbar“
Im März 1979 findet der legendäre „Treck nach Hannover“ statt. Nach einer Großdemonstration in der Landeshauptstadt verkündet Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht das Aus für die WAA-Pläne in Gorleben.

1980 – „Republik Freies Wendland“
Platzbesetzung der Bohrstelle Gorleben 1004 und Gründung der „Republik Freies Wendland“. Die Räumung nach vier Wochen wird zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD.

1981 – Die Zweifel in Gorleben werden größer, nicht kleiner
Gorleben-Hearing in Lüchow zum Bau des Zwischenlagers und massiver Protest gegen das AKW Brokdorf. Nach Bohrungen werden die Zweifel an der Eignung des Salzstock Gorleben für ein Endlager „größer, nicht kleiner“. Doch Gegner*innen des Projekts seien „Schreihälse, die bald der Geschichte angehören“, meinen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl.

1982 – „Tanz auf dem Vulkan“
Baubeginn des Zwischenlagers wird mit Aktionen im Grenzstreifen zur DDR beantwortet, militante Eskalation beim „Tanz auf dem Vulkan“ und immer schlechtere Bohrergebnisse. Plötzlich ist das Wendland mit Dragahn wieder als ein WAA-Standort im Gespräch.

1983 – Dragahn: Eine WAA wird verhindert
Proteste gegen die Pläne, in Dragahn eine WAA zu errichten. „Gorleben statt Kreta“ und Demos im Grenzgebiet zwischen der DDR und BRD. Das Bundeskabinett unter Helmut Kohl stimmt der „untertägigen Erkundung“ des Salzstocks Gorleben zu.

1984 – Menschenkette und Tag X
„Das Vertrauen hat sehr gelitten“: Menschenkette und Wendland-Blockade gegen die WAA-Pläne. Unter erheblichem Protest erreicht ein erster Atommülltransport das Fasslager Gorleben.

1985 – „Spudok“-Affäre, Probe-Castor und Kreuzweg
Ein erster leerer Probe-Castor erreicht das Wendland. Der erste Kreuzweg führt vom AKW Krümmel nach Gorleben. Nach Anschlägen auf die Bahn werden die Daten von tausenden Gorleben-Gegner*innen von der Polizei gespeichert – und damit eine ganze Szene pauschal kriminalisiert.

1986 – Baubeginn im Bergwerk, Wackersdorf & Tschernobyl
Baubeginn im Bergwerk Gorleben. Heftige Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und das AKW Brokdorf. Nach dem GAU von Tschernobyl protestieren zehntausende Menschen gegen die Atomenergie.

1987 – 10 Jahre Protest in Gorleben
Schwerer Unfall in Schacht 1 des Bergwerks in Gorleben. „Transnuklearskandal“ betrifft auch Atommüll im Zwischenlager, Proteste gegen den Bau der PKA.

1988 – „Wir stellen uns quer!“
Kreuzweg der Schöpfung führt von Wackersdorf nach Gorleben, Schmiergeldskandal, „Wir stellen uns quer“ – Proteste gegen den ersten Probecastor ins Zwischenlager.
1989 – Castor-Alarm im Wendland
Das Aus für die WAA Wackersdorf, Castor-Alarm: erster Atommülltransport nach Gorleben wird wenige Stunden vor Abfahrt gerichtlich gestoppt.

1990 – PKA-Bauplatz- und Turmbesetzung
„Ein Hauch der Freien Republik Wendland wehte durch den Gorlebener Tann…“, als auf dem Bauplatz der PKA Hütten errichtet werden. Aktivist*innen besetzen im Sommer den Förderturm in Gorleben, zum Jahresende Baustopp und SPD-Versprechen.

1991 – Mol-Skandal & Baustopp
Proteste gegen die Anlieferung von Mol-Container, PKA-Bauplatzbesetzung, erneuter „Castor-Alarm“ und nächster Baustopp im Erkundungsbergwerk.
1992 – Viel Geld für den Landkreis
Resolution gegen und eine Mehrzweckhalle für Gorleben, Erweiterung des Zwischenlagers und viel Geld für den Landkreis.
1993 – CASTOR-HALLE-LUJA und Endlagerhearing
Sitzblockaden gegen Atommüll-Lieferungen, „Wege aus der Gorleben-Salzstock-Sackgasse“, Energiekonsens-Gespräche und hohes Bussgeld gegen Turmbesetzer*innen.
1994 – Pleiten, Pech und Pannen: „Castornix“
Widerstandscamp „Castornix“ und erhebliche Proteste gegen ersten Castortransport, der wegen technischer Mängel dann abgesagt wird. Weiterbau der PKA per Weisung.

1995 – Tag X, Backpulver & Stay rude-stay rebel
Anschläge auf Bahn & Kran, die Aktion „ausrangiert“ will den ersten Castor empfangen, Bundesumweltministerin Merkel macht den absurden Backpulver-Vergleich & der Baustopp im Bergwerk wird aufgehoben.
1996 – „Wir stellen uns quer!“
10 Jahre nach Tschernobyl, „Wir stellen uns quer!“ gegen den zweiten Castor nach Gorleben.

1997 – Stunkparade gegen Sixpack
Gewaltsame Räumung für den dritten Castor, Griefahn knickt ein & mehr Geld von der BLG.
1998 – Castor-Skandal und TagX4 in Ahaus
Einwendungen gegen die PKA, Castortransport nach Ahaus, Transportestopp nach verstrahlten Behältern, Einstieg in den Atomausstieg und Moratorium im Salzstock.

1999 – „Gerhard, wir kommen“ & X-tausendmal quer
„Flickschusterei“ um Atomausstieg & AkEnd, Stunkparade nach Berlin und die Ankündigung, dass sich beim nächsten Castor X-tausend Menschen querstellen werden.

2000 – Atomkonsens & Moratorium
Defekte Brücke und unsichere Behälter verhindern Castorlieferung, Atomkonsens „alles Lüge“, denn er sichert den Weiterbetrieb der AKW und Moratorium im Salzstock.

2001 – X-tausendmal quer & Widersetzen
Zwei Atommülltransporte rollen nach Gorleben, einer im März, ein zweiter im November. X-tausend Menschen stellen sich quer und WiderSetzen sich. Der Betonblock von Süschendorf zwingt den Castor zum Rückwärtsgang. Der Widerstand bekommt ein Archiv, die Bundestagsabgeordneten ein Denkmal, die „Gewissensruhe“.

2002 – Castor im „dreckigen Dutzend“
25 Jahre nach der Standortbenennung künftig keine Wasserwerfer mehr gegen den Widerstand, Freispruch im Süschendorf-Prozess, Ver-rück-te Dörfer gegen zwölf Castorbehälter, Rechenfehler und ein Abschlussbericht des AKEnd.

2003 – Der Castor kommt, wir sind schon da!
Betonklötze für Betonköpfe, „Fest zum Protest“, der Salzstock wird besetzt, der siebte Castor rollt. Atomausstieg: das AKW Stade geht vom Netz – aber die Endlagersuche bleibt weiter unklar.

2004 – Castor-Proteste nehmen dramatische Wendung
Schienensitzen ist keine Straftat, das Einkesseln rechtswidrig, Trash People in Gedelitz, eine Veränderungssperre für den Salzstock zemetiert dessen Sonderstellung. Der Castortransport im Herbst verändert alles: Sebastién wird überfahren und stirbt.

2005 – 10 Jahre Castor, Entsorgungsfrage weiter ungelöst
25 Jahre nach der „Republik Freies Wendland“ und 10 Jahre nach dem ersten Castortransport ist die Entsorgung des Atommülls weiter ungelöst. In die Debatte um die Entsorgung des Atommülls und die Zukunft der Atomenergie kommt Bewegung, die Veränderungssperre für den Salzstock wird verlängert. Container brennen, Bauern ziehen sich aus – und im November rollt der nächste Atommüllzug ins Zwischenlager.

2006 – Seit 30 Jahren Widerstand im Wendland
Geologe Grimmel warnt vor Erdbeben, die CDU kann sich in Gorleben ein Untertagelabor vorstellen. „Wir sind gekommen um zu bleiben“: Castorproteste im Herbst mit einer eigenen „Allgemeinverfügung gegen Atomwirtschaft und Polizeiwillkür“ und ein Offenbarungseid von Umweltminister Sigmar Gabriel.