Traum von einer Sache – 40 Jahre RFW

Bei den Wörtern „Gorleben“ und „Atomanlagen“ denken viele, auch in Lüchow-Dannenberg, als erstes an „Castor“, den Transport hochradioaktiver Abfälle ins Zwischenlager. Das über mehr als zehn Jahre fast alljährlich anstehende Großereignis mit Tausenden von Demonstranten und Polizisten hat in den Vorstellungen über „Gorleben“ deutliche Spuren hinterlassen. Außerhalb der Region entstand das Bild von chaotischen Verhältnissen, denen man als Tourist nur fern bleiben konnte. Innerhalb des Wendlandes erinnern sich viele an lange Kolonnen von Polizeifahrzeugen, an den martialischen Geleitzug der Transporte, an Sitzblockaden und deren Räumung, an wochenlange Verbotsverfügungen. Gorleben, das sindin diesen Erinnerungen die Castortransporte.

Alles davor erscheint selbst bei denen, die vorher dabei waren, als graue Vorzeit. Selbst einige der zur Ausstellung über den Hannover-Treck Interviewten bekannten große Erinnerungslücken über die Zeit „vor Castor“. Dabei waren es diese voran gegangenen 15 Jahre zwischen 1977 und 1992, die dazu geführt haben, dass Gorleben das Zentrum der Auseinandersetzung um die Atomenergie in Deutschland wurde, unterbrochen nur von den wenigen Jahren, in denen der geplante Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf diese zentrale Funktion zeitweilig übernahm. Zwei Ereignisse aus dieser Vorzeit waren es vor allem, die Gorleben zum Zentrum des politischen Konflikts machten, der Hannover-Treck 1979 und ein Jahr später die Besetzung der Tiefbohrstelle 1004, die Errichtung des Hüttendorfes auf dem Platz, die Gründung der „Republik Freies Wendland“ und deren Räumung.

Beide Ereignisse gehören eigentlich zusammen. Erst zusammen ergebensie die Grundlage für die Ausdauer, mit der gegen die Atomenergie gekämpft wurde, die Langlebigkeit des Protestes und die Anziehungskraft für den Nachwuchs, der sich diesen Protest zu eigen machte. Der Hannover-Treck stand für die Bodenhaftung dieses Protestes, für die betroffene Region. Er prägte in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung eines bäuerlich-bürgerlichen Widerstandes gegen die Pläne mit der Atomenergie und deren Abfälle. Dieses Bild wirkte bis weit in die gern zitierte Mitte der Gesellschaft. Innerhalb der Region bildete der Treck den Ausgangspunkt für die ungewöhnliche Koalition von Bauern, Bürgern, Adeligen und Freaks.

Ganz anders die Repubik Freies Wendland. Sie verkörperte den utopischen Kern der Kritik an der Atomenergie, die Kapitalismuskritik und die Ablehnung der Konsumgesellschaft. Damit war sie vor allem für jüngere Leute anziehend. Zu den gesellschaftlichen Strömungen, zu diesem geistigen Umkreis gehörten Bewegungen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit ganz unterschiedlichen Themen. Die Frauenbewegung gehörte dazu (auf der Waldbrandfläche, wo später das Hüttendorf 1004 entstand, fand vorher eine Frauendemo statt). Jugendliche auch und gerade in der Provinz kämpften um Jugendzentren und gegen Bevormundung. Eine seit Anfang der siebziger Jahre entstandene Umweltbewegung verstand sich politischer als die alten Formen des Natur- und Heimatschutzes. Mit einer neuen Form der Selbstorganisation, den Bürgerinitiativen, wollten sich Bürger außerhalb der Institutionen Gehör verschaffen. Undes gab die Alternativen, die als Zerfallsprodukt der Bewegung, für die die Chiffre 68 steht, ihre Gesellschaftskritik praktisch machen und in eigenen Institutionen leben wollten. So entstanden selbst verwaltete Projekte, Buchläden, Handwerkskollektive, Lebensmittelgeschäfte, Landkommunen. Das Buch „Ökotopia“ von Ernest Callenbach beschrieb diese Utopie der Alternativen, Seyfried zeichnete sie. Auf seinen Zeichnungen fanden sich die Merkmale eines zukünftigen Sozialwesens, die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben, von Kopf-und Handarbeit, von Entscheidern und Entschiedenen. Auf Seyfrieds Zeichnungen gehörte zu diesen alternativen Idyllen übrigens immer auch ein Windrad.

Es gab also ein beträchtliches soziales Potential für den Utopieüberhang, wie Hans Christof Buch es nannte, als zu Jahresbeginn 1980 bei den Lüchow-Dannenberger Aomkraftgegnern der Plan reifte, die Tiefbohrstelle 1004 zu besetzen. Es gab insgesamt vier solcher Stellen, an denen mit Tiefbohrungen der Salzstock in Gorleben erkundet werden sollte. Ihre Numerierung reichte von 1002 bis 1005. Besetzungen von Bauplätzen für Atomanlagen oder wenigstens der Versuch dazu hatten schon in den Jahren vorher zum Arsenal der Anti-Atom-Bewegungen gehört, in Großbritannien, den USA und in Deutschland, später auch in Frankreich. Die Besetzung in Gorleben sollte stattfinden, bevor das Areal eingezäunt und gesichert war. Eine „Schlacht am Bauzaun“, wie es sie vorher in Grohndeund Brokdorf gegeben hatte, sollte auf jeden Fall vermieden werden. Das gelang über die gesamte Zeit, in der die Republik Freies Wendland existierte. Die Gegenseite hatte versucht, deren Bewohner in die Nähe von Terroristen zu rücken. Am Tag der Räumung wurde bundesweit verbreitet, auf dem Turm des Hüttendorfes seien Waffen versteckt. Gefunden wurde nichts dergleichen. Gerade wegen der demonstrativen Friedfertigkeit setzten sich in vielen Köpfen, nicht nur denen der Beteiligten, diese fünf Wochen fest als der „Traum von einer Sache“.

Karl-Friedrich Kassel

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